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Prof. Dr. Anton Berr - „Lieber Neger als Germane…“

Als die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes 1947 gegründet wurde war sie eine Organisation sämtlicher rassisch, religiös und politisch Verfolgten und Widerstandskämpfer. Es gab in der VVN Zeugen Jehovas und Katholiken, Kommunisten und Sozialdemokraten und auch konservative Antifaschisten. Auch in der VVN spiegelte sich die besondere Situation in Bayern wieder, wo auch monarchistische und bayerisch-föderalistische Widerstandsgruppen tätig waren, die nach 1945 in nicht geringer Zahl VVN-Mitglieder waren.

Einen dieser konservativen Antifaschisten, einen Professor in Weihenstephan, will ich heute vorstellen:

Einen Mann, der Deutschland zerschlagen und Europa vereinigen wollte, einen Mann, der den „asiatischen Bolschewismus“ bekämpfte und zugleich mit Kommunisten zusammenarbeitete, einen Mann, der „obgleich … mehr … Republikaner … als Monarchist“[1] einen „Bayerischen Königsbund“ gründete, einen Königsbund ohne König; einen Antifaschisten, Gründungsmitglied unserer Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der die VVN auch dann noch unterstützte, als Antifaschisten als sog. „Linksextremisten“ kriminalisiert wurden.

 

I. Entnazifizierung

 

 

Zunächst einige Daten zum Lebenslauf. Anton Berr wurde am *30. Dezember 1900 in München geboren, sein Vater Raimund war Kaminkehrermeister und stammte aus Arnstorf, Kreis Rottal-Inn in Niederbayern.

Berr studierte Landwirtschaft, 1928 Diplom, dann Tiermedizin mit Doktortitel 1930. 1936 habilitierte er sich im Fach „landwirtschaftliche Zoologie“ und war als Lehrbeauftragter an der Technischen Universität München an der landwirtschaftlichen Fakultät tätig. 1940 und 1941 scheiterten zwei Berufungen auf Lehrstühle, da sich Berr weigerte, der NSDAP beizutreten.

1935 hatte er seine Frau Dorothea, geb. Mangold, geheiratet, mit der er zwei Kinder hatte.

Seit 1942 war Berr Mitglied einer Widerstandsgruppe an der TU München, die den Tarnnamen „Wasser und Gas“ führte. Es gibt einige Fragen, die noch der Erforschung harren: Anton Berr selbst bezeichnete sich als „Gründer und Leiter“ der Gruppe.[2] Dagegen gab ein weiterer bekannter Widerstandskämpfer von „Wasser und Gas“, der langjährige Landesvorsitzende der VVN-BdA Bayern, Oskar Neumann, an, die Gruppe sei von einem KPD-Funktionär angeleitet worden, einem Gas-Wasser-Installateur, daher der Name.

Näheres über die Widerstandstätigkeit von „Wasser und Gas“ ist nicht bekannt; auch Oskar Neumann berichtet in seinen Erinnerungen keine Details. Man weiß, dass sich die Gruppe aus Wissenschaftlern, Studenten und auch Arbeitern und Angestellten der Universität zusammensetzte und dass Kontakte zur „Freiheitsaktion Bayern“ bestanden.

Nach der Befreiung arbeitete Anton Berr mit Dr. Franz Goss zusammen, der als Öffentlicher Kläger – also Staatsanwalt- an der Spruchkammer Freising-Stadt tätig war und zugleich die SPD 1945-1948 im Freisinger Stadtrat vertrat.

Goss, seit 1938 auf einer Assistentenstelle an der Forschungsanstalt für Gartenbau in Weihenstephan, wurde am 26. Mai 1943 unter der Anklage „Wehrkraftzersetzung“ und „Rundfunkvergehen“, also Abhören von „Feindsendern“, verhaftet, im Freisinger Gefängnis und in München-Neudeck inhaftiert. Vielleicht liegt hier ein Zusammenhang mit „Wasser und Gas“ vor. Im Mai 1944 kam er zwar wieder frei, ohne dass Anklage erhoben wurde, er wurde aber in Weihenstephan entlassen. Die Befreiung erlebte Dr. Goß dann als Hilfsarbeiter bei Schlüter.[3]

Zurück zu Dr. Anton Berr: Er überstand die NS-Diktatur unbeschadet, obwohl auch er ins Visier der Gestapo geraten war und mehrmals verhört wurde.

Nach der Befreiung, im August 1946, übernahm Dr. Anton Berr die Professur für Zoologie, Nutztier- und Schädlingskunde in Weihenstephan. Er wohnte in München und Freising. In München in der Olgastr., München-Neuhausen, in Freising am Veitsmüllerweg. Es soll nicht verschwiegen werden, dass sich Berr mehr als Münchner fühlte und zumindest anfänglich nur ungern in Weihenstephan tätig war.

Im Oktober 1945 war er in den vierköpfigen Betriebsrat der Universität, der u. a. auch für die Entnazifizierung zuständig war gewählt worden. Daneben gab es einen Entnazifizierungsausschuss aus vier Professoren und zwei Betriebsräten. Berr gehörte ihm an, nachdem zwei Professoren von der Militärregierung abgelehnt worden waren.[4]

Bevor auf die Konflikte, die aus der Entnazifizierung konkret entstanden, eingegangen wird, sei vorausgeschickt, wie Berr über das Thema „Hochschule und Entnazifizierung“ dachte. Er hielt dazu einen Vortrag für die VVN.

Anton Berr machte sich über die Rolle der Wissenschaft im NS-Regime keine Illusionen: „Die Forschung, die Wissenschaft soll und muss der Wahrheit und der Menschheit dienen und daher übernational, nicht national ausgerichtet sein. Im Dritten Reich stand sie … im Dienste der Lüge, des Krieges usw. … Die Technik sorgte für die materielle Kriegsrüstung; die Philosophie und andere Fächer hatten die „moralische“, besser gesagt, die antimoralische Rüstung zu unterbauen; die Biologie, Medizin und Justiz standen im Dienste des Rassewahns und des Massenmordes, worin sie auch die „nationalsozialistische“ Völkerkunde unterstützte; die Geschichte wurde nach Bedarf gefälscht, die Volkswirtschaft von Fall zu Fall zugeschnitten; die Geographie und Geopolitik des Dritten Reiches nahmen oft groteske Formen an, und es scheint, dass für diese Wissenschaften im „Künstlerhirn“ Hitlers überhaupt kein Platz war, denn er setzte sich über geographische Räume mit derselben Leichtigkeit hinweg wie über die menschliche Vernunft. Kurz, sämtliche Geistes- und Naturwissenschaften wurden für die verschiedenen Schlachten Hitlers –Rüstungsschlachten, Wirtschaftsschlachten, Judenschlachten usw. – eingesetzt und atmeten allmählich ganz den Geist der Wehrmachtsberichte des Dritten Reiches.“[5]

Anton Berr warb für die Entnazifizierung: „Vielen Deutschen wird die Ausfüllung des Formblattes zur Erfassung der nazistischen Übeltäter als eine Demütigung und sogar Erniedrigung vorkommen. Jawohl: das ist sie auch. Auf die Selbsterhöhung folgt die Erniedrigung. … Diese Erfassung der Hitlerverbrecher bedeutet aber auch den einzigen Weg und den ersten Schritt zur gründlichen Reinigung des Volkskörpers von der braunen Pest. … Nur die politisch Unheilbaren und die verbrecherischen Elemente werden die Maßnahmen der Siegermächte als Unrecht und Terror empfinden. Mögen sie es: Wir legen keinen Wert darauf, festzustellen, dass Galgenvögel den Strick der Gerechtigkeit hassen, und Narren die Mauern der Irrenanstalt.“[6]

Bald gab sich Anton Berr keinen Illusionen mehr über die politische Entwicklung hin: „Heute wird gemeckert, wenn ein Halunke zu einigen Jahren Arbeit verurteilt wird, während man zu Hitlers Zeiten ungerührt zusah, wie Abertausende spurlos verwanden und nicht wiederkamen.“[7]

1948 zog er eine kritische Bilanz der Entnazifizierung, des „Versagens der Spruchkammern“. Als Grund dieses Versagens nannte er u.a.: „Die politischen Parteien vermieden im Interesse des Stimmenfangs eine eindeutige antinazistische Haltung, zum Teil sind sie selbst bereits wieder nationalistisch. Die Kirchen fühlen sich aufgrund des Gebotes der Nächstenliebe zur Milde verpflichtet. … Die Organe des Staates waren von Anfang an nazistisch durchsetzt oder lau und verhielten sich daher großenteils pronazistisch.“[8]

Mit seiner konsequent antifaschistischen Haltung machte sich Berr nicht beliebt: „Wegen meiner konsequenten Haltung werde ich neuerdings von dem immer stärker werdenden Neonazismus angefeindet.“[9] Im Juni 1946 berichtete der Rektor der TU an das Kultusministerium vom „ungehörigen“ Verhalten des Betriebsrats mit Berr an der Spitze, der nämlich eigenmächtig einen Bericht über die Entnazifizierung an den Sonderminister für politische Befreiung, den Kommunisten Heinrich Schmitt gesandt hatte, obwohl doch ausschließlich das Kultusministerium berechtigt sei, Informationen zu erhalten. Zwischen den Zeilen liest man, dass der Bericht des Betriebsrates wohl schärfer ausfiel, als der der „offiziellen“ Entnazifizierer.[10]

Die Konflikte an der Universität eskalierten im Mai 1948, als die gesamte Professorenschaft der landwirtschaftlichen Fakultät in Weihenstephan von Rektor und Senat forderte, zu prüfen, „ob Herr Professor Berr noch weiterhin im Amt bleiben kann.“ „Das ganze Verhalten von Herrn Berr seit dem Zeitpunkt seiner Ernennung zum a. o. Professor im Jahre 1946 beweist leider immer mehr, dass seine Berufung wohl ein Missgriff war…“[11] Die Vorwürfe, die erhoben wurden, sind auf den ersten Blick unpolitisch, teils ernsterer Natur, teils geradezu kleinkariert, z. B. Berr gäbe „zweideutige Witze und sonstige Geschmacklosigkeiten“ von sich. Offensichtlich gab es einen heftigen Konflikt über die Zukunft des Hochschulstandorts Weihenstephan. Prof. Berr trat für die Rückverlegung der Institute nach München ein, warb dafür sogar in einem Zeitungsartikel, was ihm von seinen Kollegen sehr übel genommen wurde. Es wurde über die fachliche Ausrichtung des zoologischen Lehrstuhls diskutiert, und bemängelt, dass Berr nicht wie seine Vorgänger Tierarzt sei. Er konterte: „Oder sollen etwa in Zukunft Tierärzte die Kartoffelkäfer erforschen und bekämpfen?“ Dass er nicht zu den Fakultätssitzungen erscheine, gab Berr zu, denn „ich lehne es ab, Beleidigungen über mich ergehen zu lassen und mich ständig in einer fruchtlosen Opposition zu befinden.“[12]

Gerade wenn man die Akten mit dem Stichwort „Professorengezänk“ weglegen will, wird es interessant: „In meiner Eigenschaft als Mitglied der VVN verwahre ich mich dagegen, mich von jemand be- oder aburteilen zu lassen, der sich in irgendeiner Form mit dem Zustandekommens des Dritten Reichs und seiner Folgen belastet hat. Nötigenfalls, d. h., wenn man mich weiterhin bedroht, werde ich mich in dieser Sache an die „demokratische Beschwerdestelle“ der VVN sowie die Öffentlichkeit wenden.“[13] Dann folgen in den Akten die Persilscheine und es stellt sich heraus, dass der Betriebsrat Berr ein ganze Reihe Weihenstephaner Professoren[14] bei der Spruchkammer Freising-Stadt belastet hatte. Natürlich in der Berrschen Deutlichkeit, wie ein Beispiel zeigt: „Eifriger Träger des Parteiabzeichens. Nicht einwandfrei. Soll sich zwar gegenüber befreundeten Personen vertraulich gegen den Nationalsozialismus ausgesprochen haben. Steht aber in keine guten Ruf hinsichtlich seines Verhaltens gegenüber dem ihm unterstellten Personal. Gehässige Haltung gegenüber den in seinem Betrieb beschäftigten Fremdarbeitern. … Für die techn. Hochschule München-Weihenstephan zum mindesten nicht als Lehrer tragbar.“[15]

Interessant ist, dass Spruchkammervorgänge, die 1- 2 Jahre zurücklagen, jetzt vorgebracht wurden. Es war also ein Zeitpunkt, der geeignet schien, die Klagen von „Entnazifizierungsopfern“ zur Verstärkung der fachlichen Vorwürfe vorzubringen. Die Einschätzung Berrs eines Scheiterns der Entnazifizierung war also so falsch nicht.

Übrigens gab es an der Fakultät tatsächlich einen, der „mit dem Zustandekommen des Dritten Reichs … belastet“ war: Prof. Dr. Anton Fehr. Der ehemalige Minister und Abgeordnete war 1933 an der Spitze seiner Bauernbund-Fraktion in die NSDAP übergetreten und hatte für das Ermächtigungsgesetz gestimmt.

Ein weiterer Aspekt des Konflikts mit der Fakultät, in diesem Fall auch mit der Studentenschaft, waren politische Äußerungen von Prof. Berr, der mittlerweile in die Parteipolitik eingestiegen waren. Die Reaktionen beweisen, welch ungeheuren Tabubruch Berr mit seinen deutschlandpolitischen Thesen auslöste: Am 21. Januar 1948 erklärte die Fakultät: „Nach den Zeitungsmeldungen hat Herr Professor Berr am 18. Januar in einer großen Versammlung in München erklärt „Unser Vaterland ist Europa, unser Heimatland Bayern.“ Die Professoren und Studierenden der Fakultät für Landwirtschaft erklären dagegen feierlich, dass sie Deutschland als ihr Vaterland betrachten.“[16]

Letztendlich scheiterten die Bemühungen, Prof. Anton Berr loszuwerden und nach diesen Vorgängen von 1948 wird es in seiner Personalakte ruhig.

 

II. Europa ohne Deutschland

 

 

Bei den Kommunalwahlen 1948 machte die Bayernpartei erstmals durch Wahlerfolge von sich reden, beispielsweise wurde sie in der Stadt Freising mit fast 35 % der Stimmen stärkste Partei. Dieser Erfolg wird von Politikwissenschaftlern als Ausdruck einer altbayerischen Traditionslinie einerseits und als Protestbewegung gegen die als „Überfremdung“ empfundene Nachkriegsrealität mit neu nach Bayern gekommenen Flüchtlingen, Vertriebenen und Evakuierten gedeutet.[17] Schrille preußenfeindliche Töne waren für die Bayernpartei in dieser Zeit charakteristisch und machten wohl auch ihr Erfolgsrezept aus.

Prof. Berr hatte sich 1947 der Partei angeschlossen und wurde einer ihrer Theoretiker wie auch einer der beliebtesten Wahlredner.

Im Juni 1948 machte Anton Berr deutschlandweit Schlagzeilen, als ein Memorandum von ihm mit dem Titel „Bayern und Europa“ der Presse zugespielt wurde.[18] Die Parteispitze der Bayernpartei distanzierte sich umgehend von dem Papier, das an Staatsmänner wie De Gaulle und Churchill geschickt werden hätte sollen und Berr erhielt Redeverbot.[19]

Dr. Anton Berr hatte sich in seinem Papier für die Abspaltung Bayern von Deutschland ausgesprochen und war darüber hinaus gegen die Wiederherstellung eines deutschen Staates. Er ging davon aus, dass das Deutsche Reich mit der Niederlage der Nazis zu existieren aufgehört habe. In einem Flugblatt popularisierte er diese Auffassung: „Nach dem staatsrechtlichen Wegfall des fallierten Reichs sind wir wieder wie seit 1450 langen Jahren frei und souverän. … Gleiches Recht für Bayern wie für Österreich! Freiheit und Frieden und Glück wie die demokratische Schweiz! Nie wieder besteigen wir den Unglückszug der bankrotten G.m.b.H. Deutschland mit unbekanntem Katastrophenziel. Unsere Sicherheit heißt Freiheit.“[20]

Deutsche Einheit bedeute Kriegsgefahr: „…Deutschland vertrug seinen Wohlstand nicht. Unter der Führung Preußens zog es einen Militarismus auf, der bis in unsere Tage die Früchte der Arbeit des Volkes verschlang, stürzte sich in eine Kette von Angriffskriegen, die mit steigender Wucht das Leben und Vermögen des Volkes trafen und nun mit einer Katastrophe ohnegleichen endeten.“[21]

An anderer Stelle: „Das Deutsche Reich von Nazi- und Satansgnaden [muss] als Sühne für die Pogromfrevel und den KZ-Terror … geopfert werden.“[22]

In einem Privatbrief schrieb Anton Berr: „Es darf unter keinen Umständen ein Preußendeutschland, auch kein westliches Rumpfpreußendeutschland zustande kommen. Das würde den Anfang der preußischen Unglückspolitik gegenüber Europa bedeuten.“[23]

Berr war davon überzeugt, dass „…Hitlerdeutschland nicht anderes darstellte als die letzte Konsequenz, die totalitäre Form des preußischen Ultranationalismus, Despotismus und Militarismus. … Zahllose historische Dokumente charakterisieren Bayern als ein europäisches, friedliches Land, Preußen aber als ein kriegerisches, aggressives, antieuropäisches.“[24]

Friedenssicherung heiße daher: Nein zu Deutschland, ja zu Europa: „Das bayerische Volk … muss lernen, dass nicht Preußendeutschland, Großpreußen, unser Vaterland ist, sondern das abendländische Europa.“[25] „Die Einheit Neudeutschlands wird immer wieder zum Grabe der Einheit Europas. …Die Autonomiebewegung eines Volkes entkeimt den Kultus der imperialistischen Uniform, der Gewalt, und weckt im gleichen Zuge das Universalbewusstsein, in unserem Falle das europäische: Die Provinz erwacht zur vormaligen staatlichen Selbst- und Weltbesinnung, die man ihr genommen, Grenzmauern stürzen ein, historische Drahtverhaue sinken in sich zusammen.“[26]

Anton Berrs Vision war ein europäischer Staatenbund von Klein- und Mittelstaaten unter der Führung Frankreichs, dem auch ein souveränes Bayern angehören sollte. Die USA kommen in seinen Schriften faktisch nicht vor, lediglich in einem Brief meinte er, die Amerikaner sähen Europa und Deutschland als ihre Satellitenstaaten an.[27]

 

II. „Asiatischer Bolschewismus“ und Lenin als Europäer

 

 

Sehr widersprüchlich ist Anton Berrs Einschätzung der Linken, der Kommunisten, der Sowjetunion. Er argumentierte mit dem Gegensatz Europa bzw. Abendland –Asien und befürchtete ein Vordringen des „asiatischen Bolschewismus“ nach Europa. Ein Argument gegen ein vereinigtes Deutschland oder ein Westdeutschland, war, dass es in den Einflussbereich der UdSSR geraten würde.[28] Er sah „Preußen“ auch anfällig für den „Bolschewismus“, sprich „die Verstaatlichung des Menschen“, „Staatsvergottung“.[29]

Auf der anderen Seite war er überzeugt, dass die UdSSR keine militärische Offensive plane, sondern ihre Rüstung defensiv sei: „Russland, das dürfen wir nicht vergessen, wurde von Hitler ohne Grund überfallen. Es hat daher zweifellos Anspruch darauf, sich zu sichern und seine Außenpolitik entsprechend zu gestalten.“[30]

Es stellt sich die Frage, wie ein Antikommunist Berr mit Kommunisten zusammenarbeiten konnte- und das tat er in der VVN. Der Widerspruch lässt sich nicht auflösen, einige Hinweise geben vielleicht Berrs Schriften. Einmal warf er ohne weitere Erläuterung hin: „Lenin war noch Europäer.“[31] Lenin als Europäer, Stalin als Asiat? Nachdem „Europa“ für ihn das gute Prinzip, „Asien“ das böse darstellt, scheint er einen Bruch zwischen der Politik Lenins und Stalins anzunehmen. Ist hier der Stalinsche Terror gemeint, oder die Nationalitätenpolitik? Bekanntlich baute Lenin die Sowjetunion als Föderation autonomer Sowjetrepubliken auf, unter Stalin gab es eine Russifizierungspolitik bis hin zur Deportation ganzer Völker noch Sibirien.

Interessanterweise warf Anton Berr den Kommunisten Verrat an ihren Grundsätzen vor: „Einst stand auf der Fahne der Kommunisten, auch der deutschen, „Proletarier aller Länder, vereinigt euch.“ Das war ein berechtigter, begründeter und sittlicher Anspruch“[32] Aber: „Vor allem die Kommunisten gebärden sich heute als die Bannerträger der nationalen Sache. Werden diese Menschen politisch nie reif? Lernen sie nichts aus der Geschichte? Merken sie nicht, dass die Anbetung des National-Götzen uns ins Unglück führte?“[33]

In anderem Zusammenhang fiel die Äußerung: „[Preußen] hat uns im Jahre 1866 unter Bismarck, im Jahre 1919 unter Noske und im Jahre 1933 unter Hitler überfallen und unterjocht.“[34]

1866: Preußisch-österreichischer Krieg, Bayern an der Seite Österreichs. 1933: Gleichschaltung der Länder durch die Naziregierung. Mit „Noske-1919“ kann nur die Niederschlagung der bayerischen Räterepublik durch Freikorps und Reichstruppen gemeint sein. Die Räterepublik, vielleicht als Versuch eines „bayerischen Sozialismus“ scheint von ihm demnach positiv gesehen worden zu sein.

Auch hier zeigt sich das Grundthema der Berrschen Überlegungen: Internationale Zusammenarbeit und regionalistische Bestrebungen werden positiv gesehen, nationalistische negativ. „Nationalstaaten sind despotische Ungeheuer. Aber gerade das bildet auf die Dauer ihre Schwäche: Sie gehen über kurz oder lang wie einst die Saurier an Verplumpung zugrunde. Auf die „nationale Konzentration“ folgt der Zerfall.“[35]

 

IV.

 

 

Zum politischen Credo von Dr. Anton Berr gehörte, dass „völkische Grenzen …eine harmlose, natürliche Gegebenheit der Gestalt Europas“ seien, während die Nationalisten aus Grenzen „die Scheidewand zwischen Himmel und Hölle, die der Staat künstlich so dick und so hoch wie möglich mauern soll“ machen wollten.[36] Er stellte fest: „Kein Volk hat einen „Anspruch“ auf ein anderes Volk“[37] und begründete seine Ansicht, dass VVN und Bayernpartei „Freunde“ seien, damit, dass die Bayernpartei „Rassewahn und –haß“ ablehne.[38]

Wenn es gegen Preußen ging, war Berr aber durchaus bereit, den völkischen Rassenblödsinn schöpferisch anzuwenden. Hier gab es prinzipiell zwei Argumentationslinien: 1. Die Preußen, also diejenigen, die am lautesten „Deutschland“ schreien, seien keine Germanen, keine echten Deutschen. 2. Die Bayern seien ein rassisch eigenständiges Volk.

Argumentation Nr. 1 hört sich beispielsweise so an: „Berlin – ein wendischer Name- tritt zum ersten Mal im 13. Jahrhundert … als Mittelpunkt des wendischen Brandenburg und als Randerscheinung in die europäische Geschichte ein. Der Name „Preußen“ leitet sich ursprünglich von einem baltischen Volksstamm östlich der Weichsel ab, der im 13. Jahrhundert vom Deutschen Orden botmäßig gemacht wurde. …Später schwamm der Ausdruck „Preußen“… auch [nach] Brandenburg, um schließlich immer weiter nach Westen und Süden zu kriechen. Heute bedroht das Berlinische Preußen, der slawische Gifthauch sogar Bayern … Dieses seit Jahrhunderten drängende und sich aufdrängende Borussentum maßt sich an, das Deutschtum, das heißt, die germanischen und keltischen Bayern, Franken, Schwaben und die eigentlichen, zwischen Rhein und Elbe wohnenden Sachsen zu vertreten. … Unter solchen Umständen Preußen mit Deutschland zu identifizieren, ist geradezu grotesk.“[39]

Die Worte „Der slawische Gifthauch“ sind im Manuskript durchgestrichen, Berr hat sie demnach gedacht, aber nicht publizieren wollen.

Zu Argumentation Nr. 2: Das „Baierntum stammt aus einer Vielfalt von Rassen und Kulturen..“ Zu den Vorfahren des Baiernvolkes gehörten Illyrer, Kelten, Römer, „seine Ursprünge liegen beim mutterrechtlichen Bauerntum, beim jungmännerrechtlichen Jägertum, bei den vaterrechtlichen Großhirtenpatriarchen.“ Diese Thesen führten bis zu Überlegungen zu einer engen Zusammenarbeit mit Österreich unter Bezugnahme auf die „ideal-territoriale Ausdehnung Baierns anno 956“.[40]

„Man huldigt nach wie vor dem verlogenen Grundsatz von „Blut und Boden“, vergisst aber dabei, dass den Bayern die Preußen stammesgeschichtlich und in jeder anderen Hinsicht viel ferner liegen als die Österreicher. Man will zusammenkitten, was nicht zusammen gehört, und zerreißen, was immer schon eins war.“[41]

Ich bin nicht ganz sicher, ob Anton Berr nicht die Bayern-Argumentation gelegentlich auch bewusst provokativ eingesetzt hat, um unerwünschte Bündnispartner loszuwerden. Jedenfalls findet sich in seinem Briefwechsel der Brief eines ehemaligen Anhängers, eines gewissen Herrn Gerstner, der an Dr. Berr schrieb: „Es ist mir unmöglich zu ihren Samstagszusammenkünften fernerhin zu kommen, wenn sie ihre heute früh geäußerte Bemerkung, dass sie lieber Kelte oder sonst etwas, ja sogar lieber Neger als Germane sind, nicht zurücknehmen. … Ich stelle Ihrer These meine These entgegen, dass wir Baiern nicht nur Germanen sind, sondern die „besten“ Germanen, besser z B. als die Preußen. … [Ich] muss … Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie den Preußen keine größere Freude machen können, als durch diese Anschauung: denn das ist es ja, was die Preußen gerne haben wollen, dass wir keine Germanen sind … Ihre Lehre, Herr Professor, passt diesen Gesellen vorzüglich. Sie sind also, mein Herr, in meinen Augen Propagandist und Agent für Preußen, ein Schädling aber für Baiern! … Es passt dies alles ganz famos zu der Diffamierung und Beschimpfung, von Baierns Gegnern in Scene (sic!) gesetzt, um eben Baiern in seiner großen Mission zu stören, ein neues Deutschland auf freier föderalistischer stammesstaatlicher Grundlage zu schaffen unter baierischer Führung. … Heil Baiern!“[42]

Die „deutsche Mission“ war ja etwas, das Berr grundsätzlich ablehnte. Auch den Föderalismus, wie ihn die CSU erfolgreich praktizierte und auch der gemäßigte Bayernpartei-Flügel vertrat, lehnte Berr ab: „Der sogenannte Föderalismus ist politisch weder warm noch kalt, eine politische Missgeburt, eine Verlegenheitslösung.“[43] Vielleicht hat er also den heilbayerischen Gerstner absichtlich etwas provoziert.

 

V. Ein Königsbund ohne König

 

 

Im Jahr 1949 trat Anton Berr aus der Bayernpartei aus und widmete sich einem neuen Projekt: er gründete den 1933 von den Nazis aufgelösten „Bayerischen Heimat- und Königsbund“ neu. Der Bund verstand sich als überparteiliche Sammlungsbewegung bayerischer Monarchisten. Oben wurde Ilse Unger zitiert, die in ihrer Arbeit über die Bayernpartei die Meinung vertritt, Berr sei „mehr … Republikaner … als Monarchist“ gewesen. Ich schließe mich dieser Meinung an: In Berrs zahlreichen Manuskripten bis 1949 wird die Frage „Monarchie“ überhaupt nicht erwähnt; als Vorbilder für Bayern nannte er dann später Schweden und Großbritannien, also Länder, die parlamentarisch regiert werden und wo der Monarch nicht mehr tut, als zu repräsentieren. Warum dann das Königs-Projekt? Berr ging es um die Sammlung derjenigen, die eine Eigenstaatlichkeit Bayerns forderten, keinen bloßen Föderalismus. Nachdem sich die Bayernpartei dieser Konzeption verweigert hatte, waren die Monarchisten am ehesten ansprechbar, denn ein bayerisches Königreich als Bundesstaat einer deutschen Republik ist nur mit viel Phantasie vorstellbar.

Anton Berr gründete einen Königsbund ohne König. Denn wir erfahren aus der Erklärung von Franz Freiherr von Redwitz, Adjutant seiner sog. Königlichen Hoheit „Kronprinz“ Rupprecht von Bayern, dass „vor kurzem ein Heimat- und Königsbund ohne jede Fühlungnahme mit dem Kronprinzen … ins Leben gerufen“ worden sei. „Der Kronprinz muss … fordern, dass Persönlichkeiten, die sich in Bayern zu Trägern der Königsidee machen und diese mit seiner Person und seinem Hause in Verbindung bringen, selbstverständliche Voraussetzungen erfüllen: Sie können nur Bestrebungen verfolgen, die seiner und seines Hauses Tradition und politischer Einstellung nicht entgegenstehen. … Der Kronprinz appelliert an die stets bewiesene vaterlandstreue und politisch kluge Haltung der bayerischen Bevölkerung, sich nur solchen Persönlichkeiten anzuschließen, die die unumgänglichen Voraussetzungen für die Leitung eines Heimat- und Königsbundes erfüllen.“[44]

Wittelsbach distanzierte sich von Berr, stellte ihn kalt, verbot faktisch, sich seinem Königsbund anzuschließen; der versuchte zwar eine Verständigung zu erreichen, denn ein Königsbund ohne König war wohl nicht ideal; Berr lehnte aber den als Bedingung für die Anerkennung seines Königsbundes geforderten Rücktritt als Vorsitzender ab. Natürlich war er auch nicht bereit, sich seine Politik von Wittelsbach vorschreiben zu lassen. Damit war klar, dass er nur eine Minderheit der Monarchisten organisieren konnte. Abgesehen davon, dass sich der sog. Kronprinz hütete, sich politisch für ein unabhängiges Bayerns zu engagieren, strebten Teile des Adels, besonders im evangelischen Franken, die Restauration aller deutscher Monarchien einschließlich der preußischen Hohenzollern an, was der Preußengegner Berr selbstredend ablehnte. Als dann ein gegnerischer Heimat- und Königsbund unter Leitung des Grafen La Rosee (Schloss Isareck)[45]) gegründet wurde, meinte er: „Die schwarzweißroten und die weißblauen Monarchisten müssen klar getrennt werden.“[46] Die weiteren Irrungen und Wirrungen, mit Namensstreit und „einstweiligen Verfügungen“ sollen uns nicht weiter interessieren.

 

VI.

 

 

Der „antifaschistische Konsens“ von 1945, der die Verfolgten jeder Richtung in der VVN vereinigt hatte hielt unter den Bedingungen des ausbrechenden Kalten Kriegs nicht lange. Zuerst fasste 1948 die SPD einen Unvereinbarkeitsbeschluss, der ihren Mitgliedern verbot, der VVN anzugehören. CSU, SPD und Bayernpartei forderten ihre Mitglieder auf, aus der VVN auszutreten und gründeten den „Landesrat für Freiheit und Recht“ als „nichtkommunistische Verfolgtenorganisation“, die allerdings keinerlei Erfolg hatte, während die VVN 1950 immer noch 7.000 Mitglieder in Bayern organisierte.

Der „Heimat- und Königsbund“ distanzierte sich von der VVN nicht. Ein Mitglied des Königsbunds und Vertrauensmann von Berr, Dr. Otto Giendl, arbeitete im Auftrag der Königsbunds im Vorstand der VVN München mit.

Anton Berr und der Königsbund standen auch dann noch zur VVN, als diese per Beschluss der Bundesregierung vom 19. September 1950 und der bayerischen Staatsregierung vom 29. September 1950 als „linksextremistisch“ kriminalisiert wurde und ihre Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden.

Prof. Dr. Anton Berr kommentierte diesen Beschluss: „…als Prügelknaben fungieren zwar nicht mehr die Juden – sie sind bereits verbraucht- sondern die Kommunisten oder jene Menschen, die man willkürlich zu Anhängern des Kommunismus stempelt. Diese Art von Antikommunismus ist also an die Stelle des offiziellen Hitlerschen Antisemitismus getreten. …
Der Angriff Bonns richtet sich … in erster Linie … gegen die entschiedensten Verfechter der Demokratie, gegen die antinazistischen Widerstandskämpfer.
Selbstverständlich ist der Bonner Beschluss antidemokratisch, denn er beruht nicht auf dem politischen Willen der Mehrheit der am Weststaat beteiligten Bevölkerung oder ihrer parlamentarischen Vertretung. Selbst wenn beides zuträfe, wäre er … nicht demokratisch, denn Demokratie im ethischen Sinn ist unvereinbar mit Unterdrückung von Minderheiten. In Wirklichkeit handelt es sich aber in unserem Falle eher um die Unterdrückung des Willens einer Mehrheit vonseiten einer Minderheit. …
Selbstverständlich ist der Bonner Beschluss antisozial, nicht nur asozial, denn er bedroht die Existenz vieler, die ihr Brot ehrlich und mühsam verdienen und die Millionen ihrer Gesinnungsbrüder durch die Verbrechen des Naziregimes verloren haben. Die Henker im Dienste Hitlers werden gleichzeitig durch den Bonner Beschluss offiziell rehabilitiert. Ja-Sagen und Versagen feiern schamlos-fröhliche Urständ. … Jedoch auch das ist nicht erstaunlich, nachdem Hitler eine Spruchkammerschlacht nach der anderen post mortem gewonnen hat. Wie sehr werden jetzt die toten Nationalsozialisten bereuen, dass sie Giftpillen geschluckt haben. Aber solche postnationalsozialistischen Wunder haben selbst sie, die doch wahrlich wundergläubig waren, nicht erwartet.
Die VVN als kollektiv staatsgefährdend zu erklären, halte ich nicht nur für eine abstruse Unrichtigkeit und Ungerechtigkeit, sondern auch für einen staatspolitischen Unsinn. Wenn schon Kampf, dann für und nicht gegen die Völker- und Menschenrechte.“
[47]

Nicht lange danach zog sich Berr, nachdem alle seine politischen Bestrebungen gescheitert waren, resigniert aus der Politik zurück. Im August 1951 schrieb er in einem Privatbrief: „Ich mache keine Politik mehr, denn ich glaube, dass die Lebenszeit des preußisch-deutschen Nationalismus noch nicht abgelaufen ist, ja sogar erst ihrem Höhepunkt zustrebt. Er wird uns überleben.“[48]

Er widmete sich dann in seiner Freizeit in GroĂźdingharting sĂĽdlich MĂĽnchens dem Obstbau.[49]

Zum 30. März 1966 trat Prof. Dr. Anton Berr in den Ruhestand.

In den Akten findet sich dann noch eine letzte politische Äußerung von Berr aus dem Jahr 1966. Bei der Landtagswahl war der Bayernpartei erstmals in ihrer Parteigeschichte der Einzug in den bayerischen Landtag nicht mehr gelungen. In der folgenden Parteikrise erinnerte man sich des „Veteranen“ Berr und versuchte ihn zum Wiedereintritt in die Partei zu überreden. Berr fühlte sich zwar geehrt, lehnte aber bestimmt ab:
„[Die] massenhysterischen Erscheinungen alldeutschen Gepräges wie: Fußballgötzendienst, Berlin-Kult, … hohe Beteiligung an den sogenannten Bundestagswahlen trotz Renazifizierung und Remilitarisierung (diese Wörter sind zwar hässlich, trotzdem noch zu schön für die betreffenden Begriffe), kollektive Gleichgültigkeit und Verlogenheit hinsichtlich einer bestialischen und unheilträchtigen Vergangenheit, alles lautstark musikalisch umrahmt von „Preußendeutschland über alles“, vom „Ring des Nibelungen“ sowie vom Rauschen des bonn-berlin-hörigen Blätterwaldes.
Die fortschreitende Gleichschaltung („formierte“ = uniformierte Gesellschaft, das begehrte Objekt aller Diktaturen und totalen Staaten), … das kommende Ermächtigungsgesetz in Neuauflage, verschämt oder heuchlerisch „Notstandsgesetz“ getauft, und andere politische Restaurationsscherze, die in Bonn zum Schaden Bayerns und Europas aufgetischt werden, stellten für mich als Mitglied der Bayernpartei eine unerträgliche Herausforderung dar.
Ohnmächtig dieser Flut gegenüberstehend und hoffnungslos alleingelassen habe ich mich unwiderruflich ins Privatleben zurückgezogen und begnüge mich mit der Rolle des stillen Beobachters. …“
[50]

Anton Berr starb am 10. Oktober 1975.

 

  1. Ilse Unger: Die Bayernpartei – Geschichte und Struktur 1945-1957, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. 1979, S. 144 [↩]
  2. Anton Berr: Entnazifizierungsbogen, 03.11.1948, IFZ ED 719-174 [↩]
  3. Stadtarchiv FS, 04700001, „Stadtratswahl 1946“, Fragebogen Dr. Goß [↩]
  4. Personalakte Anton Berr, Archiv TUM [↩]
  5. Anton Berr: Hochschule und Entnazifizierung, 20.09.1948, IFZ ED 719-173-10 [↩]
  6. [Anton Berr]: Zum Formblatt zur Erfassung der politischen Zusammensetzung des deutschen Volkes, O. J., IFZ ED 719-178-126 [↩]
  7. Anton Berr an Ministerialdirektor Höltermann, 06.10.1946, IFZ ED 719-167-78 [↩]
  8. Anton Berr: Hochschule und Entnazifizierung, 20.09.1948, IFZ ED 719-173-10 [↩]
  9. Anton Berr: Entnazifizierungsbogen, 03.11.1948, IFZ ED 719-174 [↩]
  10. Rektor TU an Kultusministerium, 10.06.1946, Personalakte Berr, Archiv TUM [↩]
  11. Fakultät für Landwirtschaft (Dekan Prof. Dr. Hans Raum) an Rektor TUM, 26.05.1948, Fakultät für Landwirtschaft (Dekan Prof. Dr. Hans Raum) an Senat TUM, 24.06.48, Personalakte Berr, Archiv TUM [↩]
  12. Anton Berr an Senat TUM, 04.06.1948, Personalakte Berr, Archiv TUM [↩]
  13. Anton Berr an Senat TUM, 04.06.1948, Personalakte Berr, Archiv TUM [↩]
  14. Dr. Walter Fischer, Amtmann Schaps, Dr. Scheibs, Dr. Frömel, Karl Zeiler [↩]
  15. Beurteilung Institutsdirektor Karl Zeiler durch Anton Berr, 09.09.1946, Archiv TUM [↩]
  16. Erklärung Fakultät für Landwirtschaft, 21.01.1948, Personalakte Berr, Archiv TUM [↩]
  17. 1946 betrug der Anteil der seit 1939 Zugewanderten ca. ¼ der bayerischen Bevölkerung. Unger, a. a. O., S. 16 [↩]
  18. „Was der Berr sagt“, DER SPIEGEL, 24.06.1948 [↩]
  19. Josef Baumgartner an Anton Berr, 20.07.1949, IFZ ED 719-4 [↩]
  20. [Anton Berr]: Achtung! Augen auf! Ermächtigungsgesetzler am Werk!, o.J, IFZ ED 719/178 [↩]
  21. [Anton Berr]: Zum Formblatt zur Erfassung der politischen Zusammensetzung des deutschen Volkes, O. J., IFZ ED 719-178-126 [↩]
  22. [Anton Berr]: ungezeichnete Manuskript, „Ende Februar 1948“, IFZ ED 719-176 [↩]
  23. Anton Berr an Dr. Bernhard Dietrich (Schwäbisch-alemannischer Heimatbund), 01.05.1948, IFZ ED 719-168 [↩]
  24. Anton Berr: Bayern und Europa, 30.06.1948, IFZ ED 719-174-141 [↩]
  25. Anton Berr: München-Berlin-Moskau, Dezember 1947, IFZ, ED 719-175-139 [↩]
  26. Anton Berr: Weststaat oder Weststaaten, April 1949, IFZ ED 719-176-123 [↩]
  27. Anton Berr an Ernst Atzler 26.09.1950, IFZ ED 719-167 [↩]
  28. Anton Berr: Weststaat oder Weststaaten, April 1949, IFZ ED 719-176-123 [↩]
  29. Anton Berr: Bayern und Europa, 30.06.1948, IFZ ED 719-174-141 [↩]
  30. Anton Berr: München-Berlin-Moskau, Dezember 1947, IFZ, ED 719-175-139 [↩]
  31. Anton Berr: München-Berlin-Moskau, Dezember 1947, IFZ, ED 719-175-139 [↩]
  32. Anton Berr: München-Berlin-Moskau, Dezember 1947, IFZ, ED 719-175-139 [↩]
  33. Anton Berr an Josef Schießl, 28.11.1946, IFZ ED 719-172 [↩]
  34. Anton Berr, Interview, 30.08.1948, IFZ ED 719-169-8 [↩]
  35. Anton Berr: Kommt ein Krieg?, [1948], IFZ ED 719-176 [↩]
  36. Anton Berr: Die Entmachtung der nationalsozialistischen „Idee“, [ca. 1945-1947], IFZ ED 719-175-2 [↩]
  37. Anton Berr, Interview, 30.08.1948, IFZ ED 719-169-8 [↩]
  38. [Anton Berr]: Unsere Freunde, o.J., IFZ ED719-178 [↩]
  39. Anton Berr: München-Berlin-Moskau, Dezember 1947, IFZ, ED 719-175-139 [↩]
  40. [Anton Berr]: [Als im Frühling 1945…], o. J., IFZ ED719-178 [↩]
  41. Anton Berr: Logik, 1948, IFZ ED 719-176 [↩]
  42. Luis Gerstner an Anton Berr, 23.10.1950, IFZ ED 719-169-57 [↩]
  43. Anton Berr: München-Berlin-Moskau, Dezember 1947, IFZ, ED 719-175-139 [↩]
  44. Franz Freiherr von Redwitz, Erklärung, 28.12.1949, IFZ ED 719-172-105 [↩]
  45. August Desiderius Graf Basselet de La Rosee (1898-1970 [↩]
  46. Anton Berr an Alois Fraidling, 23.01.1950, IFZ ED 719-169-31 [↩]
  47. Prof. Dr. Anton Berr an VVN, 15.10.1950, IFZ ED 719-173-23 [↩]
  48. Anton Berr an Dr. Bernhard Dietrich, 31.08.1951, IFZ ED 719-172 [↩]
  49. Anton Berr an Anny Reichardt, 01.01.1953, IFZ ED 719-172 [↩]
  50. Anton Berr an Helmut Kalkbrenner, Vorsitzender BP, 11.08.1966, IFZ ED 719-170-5 [↩]
Max Lehner in der NS-Zeit – Geschichte einer Verfolgung

„…1918 / 1919 […] wurde die deutsche Front […] von Juden und Verbrechern hinterhältig erdolcht. […] Wir haben dann bis 1933 sehen müssen, dass in Deutschland die Juden ihre Herrschaft ausübten, dass die Finanzgewalt, Theater, Presse usw. in der Hauptsache in jüdischen Händen lag und dass auch die Inflation ein Werk der Juden war. […] Diesem internationalen Judentum war es gelungen, sich in den deutschen Volkskörper einzunisten und ungeheuren Schaden anzurichten. […] Wir haben bisher nichts getan in Freising gegen die Juden und auch nichts gegen die Judenknechte. Wir werden nun aber sorgen, dass Freisings Geschäftswelt nicht mehr von Juden belästigt wird.“[1]

Am Abend des 10. November 1938 hörten mehrere Tausend Freisinger Hetzreden wie diese des NSDAP-Kreisleiters Carl Lederer. Die Versammlungssäle im Collosseum, dem heutigen „Woolworth“, dem Stiegl-Bräu, Grünen Hof und Neuwirt in Neustift waren gut gefüllt.[2]

Im Anschluss an die Hetzkundgebungen, nach neun Uhr abends, machte sich ein Mob von 3.000 Personen auf den Weg, Freising, „judenfrei“ zu machen. Mehrere jüdische Bürger Freisings, Siegfried Neuburger, Oskar Holzer und Max Schülein waren bereits im Rahmen der deutschlandweiten Pogrome, die man zynisch Reichskristallnacht nannte, in das KZ Dachau verschleppt worden.

Über die folgenden Ereignisse gibt es einen Polizeibericht, eine geschönte, offiziöse Version ganz in der Diktion der Nazis:

„Ein Trupp dieser Leute, vielleicht 200 Personen, zog vor das Haus des Juden Holzer […]. Sie forderten, dass die Tochter des Juden, Irma Holzer, eine äußerst freche und unverschämte Jüdin, herauskomme. Der Aufforderung kam sie nach. Nun wurde sie auf der Straße etwa 100 m weit zum „Anschauen“ herumgeführt. […] Von der Schutzpolizei wurde sie zu ihrem persönlichen Schutz in Haft genommen […]. Etwa zur gleichen Zeit wurde der arische Rechtsanwalt Max Lehner, der judenhörig ist und bei Geldeintreibungen Juden vor Gericht vertritt, mit Gewalt aus seiner Wohnung geholt. Es begab sich ein Trupp vor seine Wohnung und forderte ihn auf, herauszukommen. Da nicht geöffnet wurde, ist die Wohnungstüre eingedrückt worden, auch ging eine Fensterscheibe in Trümmer. Es wurde ihm dann [ein] Transparent „Juda verecke“ [sic!] in die Hand gedrückt, das er eine längere Wegstrecke tragen musste. In seiner Wohnung erhielt er ein paar Ohrfeigen. […] Nachdem die Schutzpolizei mit der Unterbringung der Jüdin fertig war, rückte sie aus und nahm auch Lehner fest. Er wurde zu seiner persönlichen Sicherheit und auf seinen eigenen Wunsch in Schutzhaft genommen.“[3] Nach der Familienüberlieferung war Lehner im Nachthemd, als man ihn durch die Straßen zerrte.[4]

Es gibt noch zwei weitere Versionen über die Aufschrift auf dem Schild: „Ich bin ein Judenknecht“ und „Raus Du Judengenosse“. [5] Zum Ort der Ereignisse: Das Anwesen Holzer befand sich der Oberen Hauptstraße 9, Max Lehner wohnte an Plantagenweg 1. Der braune Mob zog also wohl aus der Altstadt durch die Ziegelgasse und Prinz-Ludwig-Straße. Auch wenn Quellen fehlen, darf angenommen werden, dass die Aktion gegen Irma Holzer und Max Lehner geplant war, wie dies aus anderen Orten belegt ist. Überall wurde der Terror der Pogromnacht als „spontane Aufwallung des Volkszorns“ ausgegeben, war aber von der Nazipartei sorgfältig vorbereitet.

Diese Terroraktion der Freisinger Nazis war ein Wendepunkt im Leben von Max Lehner, auch wenn er am nächsten Tag aus dem Freisinger Gefängnis in der Fischergasse wieder entlassen wurde. Die Freisinger Nazis hatten nicht vor, ihn in Ruhe zu lassen; sie wollten seine Existenz vernichten.

 

 

*

 

Bevor wir das weitere Schicksal von Max Lehner verfolgen, müssen wir untersuchen, warum der Mann, der seit 1933 eine erfolgreiche Anwaltskanzlei betrieb,[6] von den Nazis derart gehasst wurde.

Zunächst zur Familie: Maximilian August Jakob Lehner, geboren am 12. Oktober 1906 in Freising, war in seinem bisherigen Leben politisch nicht hervorgetreten, wohl aber sein Vater, der Postbeamte Jakob Lehner, der seit 1929 für die Bayerische Volkspartei im Freisinger Stadtrat gesessen hatte und sein Mandat im Zuge der „Gleichschaltung“ im April 1933 verlor.[7] Jakob Lehner, so Kreisleiter Carl Lederer 1940, „benahm sich in seinem Amte […] als Gegner des Nationalsozialismus. Der Kampf gegen ihn wurde solange geführt, bis er endlich durch die Reichspost in Pension geschickt wurde. Der Vater des Lehner steht auch heute noch ablehnend der Bewegung gegenüber und zeichnet sich dadurch aus, dass er bei Sammlungen usw. den Beweis seiner gegnerischen Einstellung zeigt.“[8]

Neben dem Vorwurf, Juden juristisch zu vertreten, scheinen die Anschuldigungen des Kreisleiters Lederer gegen Max Lehner weitgehend substanzlos; so ist von seiner „maßlose(n) Art“ die Rede, den Hitlergruß habe er „in lächerlicher Weise“ angewandt. „Durch seine strenge konfessionelle Einstellung“ habe es Max Lehner verstanden, „den gleichgesinnten Teil der Bevölkerung an sich zu ziehen.“[9]

Auf diese Vorwürfe gibt es eine Antwort von Max Lehner, der um seine Existenz kämpfen musste und daher verständlicherweise versuchte, die Vorwürfe zu entkräften. Zur Behauptung, er würde den „Deutschen Gruß“ schlampig anwenden, meinte er, „dass ich vielleicht das eine oder andere Mal eine Persönlichkeit im Auto wegen meiner herabgesetzten Sehkraft erst spät erkannte und dass dann der Gruß etwas flüchtig geworden ist.“[10] Bemerkenswert ist Max Lehners Verneinung der „streng konfessionellen Einstellung“. Er gibt an, „an kirchlichen Veranstaltungen (auch Sonntagsmesse u. dergl.), abgesehen von ganz vereinzelten Fällen, nicht teilgenommen“ zu haben.[11] Noch überraschender wirkt die Mitteilung des späteren Oberbürgermeisters, „die letzten Jahre vor dem Umbruch nicht zu den damals zahlreichen Wahlen“ gegangen zu sein: „Das damalige Parteigetriebe war mir unangenehm.“[12] Der Sohn eines BVP-Stadtrats ein Nichtwähler?

Nochmals sei der aus der Zwangslage heraus apologetische Charakter der Stellungnahme betont. Dennoch: Waren nicht Angaben über Wahlbeteiligung anhand von Wählerverzeichnissen überprüfbar? Könnte demnach etwas Wahres an dieser Aussage sein?

In einem Fall zumindest hatte Lehner an einer Wahl teilgenommen: Zufällig hat sich im Stadtarchiv für eine der sechs Wahlen zwischen 1929 und 1933 ein Wählerverzeichnis erhalten, das Max Lehner und seinen Vater Jakob als abstimmend aufführt.[13] Es war die Stadtratswahl 1929 – hier wäre es freilich schwer vorstellbar gewesen, dass der Sohn eines Mannes, der erstmals für den Stadtrat kandidierte, nicht zur Wahl ginge.

Mag also das Bekenntnis zur Wahlenthaltung zutreffen oder nicht: Immerhin fällt auf, dass der Mann, der 22 Jahre an der Spitze der Stadt Freising stand, zeitlebens parteilos war. „Parteigetriebe“ war demnach Lehners Sache nicht.

Nach 1945 konnte Max Lehner sein Verhältnis zu den Nazis wahrheitsgemäß schildern. Trotzdem trügt die Hoffnung, dass jetzt die Quellen zu Lehners Widerstand gegen das NS-Regime reichlicher flössen. Denn Max Lehner war kein Mann großer Worte, der sich als großer Widerstandskämpfer dargestellt hätte. Ich habe eine einzige schriftliche Äußerung aus dem Jahr 1947 gefunden, die ein paar Details preisgibt, wobei auch das etwas übertrieben ist: Denn zu den Auseinandersetzungen mit den Nazis, die Lehner in diesem Schreiben in einigen Spiegelstrichen stichpunktartig aufzählt, nennt er teils nur Nachnamen ohne weitere Angaben, teilweise gar keine Namen.

Im Freising des Jahres 1947 kannte wahrscheinlich jeder jeden und die Ereignisse waren frisch im Gedächtnis. Heute dagegen ist es sehr schwierig, die Sachverhalte zu klären. Um zwei Beispiele zu nennen: Beim Internationalen Suchdienst Bad Arolsen, wo Millionen Datensätze von NS-Opfern gespeichert sind, bleibt die Suche nach einem KZ-Häftling, von dem man nur einen Nachnamen ohne weitere Eingrenzungsmöglichkeiten hat, erfolglos.

1947 hatte die Spruchkammer Lehner noch attestiert: „Dass der Betroffene … sich gegen jede Umbiegung des Rechts im nationalsozialistischen Sinne öffentlich in den Sitzungen des Amtsgerichts gewendet hat, dafür bieten die Akten des Amtsgerichts eine erhebliche Anzahl von Beweisen.“[14] Heute sind die betreffenden Gerichtsakten verschollen, wahrscheinlich der Aktenvernichtung zum Opfer gefallen.

Die Forschung hat also noch ein weites Feld und ich kann heute nur ein Zwischenergebnis präsentieren.

In dem genannten Schreiben fasste Max Lehner zusammen, was die Richtlinie seines Handeln als Wahrer des Rechts gewesen war: „Der Nationalsozialismus war eine Gewaltherrschaft ohne Recht für den einzelnen. Er hat die früheren Gesetze vielfach formell aufrecht erhalten, in Wirklichkeit haben seine Organe willkürlich gehandelt und sich über die Gesetze hinweggesetzt. Außerdem gab es aber die spezifisch nat.soz. Gesetze, wie das Heimtückegesetz, das Erbgesundheitsgesetz usw.
Der Rechtsanwalt hatte die Aufgabe, in den ersteren Fällen das formell noch bestehende Gesetz zum Schutz des Einzelnen gegen Willkürakte zur Geltung zu bringen und in den letzteren Fällen den einzelnen vor den formell gültigen nat.soz. Gesetzen zu schützen. Dagegen hat es kein nat.soz. Verbot gegeben, die Partei hat sich eine solche Blöße nicht gegeben nach außen. Die gefährlichsten Verbote aber waren die unausgesprochenen. Inhalt dieser Rechtsanwaltstätigkeit aber war -trotz dieser unausgesprochenen Verbote- Widerstand gegen das nat.soz. Unrecht, die Gewaltherrschaft, zu leisten.“[15]

In diesem Sinne war er als Anwalt tätig gewesen: „Bei Freund und Feind galt ich als Anwalt der Nichtnazi.“[16]

Lehner zählt stichpunktartig auf:
Mietsachen, bei denen sich Parteifunktionäre eingemischt hätten, „um rechtskräftige Urteile gegen Pgs. durch Druck auf die Gegenseite außer Wirkung zu setzen.“[17]

„Gegen verschiedene bei der Kreisleitung besonders geschätzte Parteileute habe ich Beleidigungsklagen von Nicht-Pgs geführt.“[18]

„Vielfach wurde ich um Rat angegangen, wie Parteizumutungen und Zwangsmaßnahmen der Partei auszuweichen sei.“[19]

Max Lehner verteidigte Hans Beck gegen eine Körperverletzungsklage „die die HJ politisch ausschlachten wollte (Hetze gegen ehemalige Angehörige anderer Jugendbünde), so […], dass der Bannführer Benkert als Zeuge mich und meinen Klienten als politisch unzuverlässig in öffentlicher Sitzung des Landgerichts bezeichnete und mich später auf der Straße beschimpfe.“ Hier geht es offenbar um eine Schlägerei zwischen Hitlerjugend und katholischen Jugendlichen. Hans Beck, am 28. Januar 1919 in Freising geboren, wohnhaft am Domberg 4,[20] war Angehöriger der Pfadfinderschaft St. Georg, die als katholische Jugendorganisation bald nach der Machtübernahme ins Visier der Nazis geraten war. Anlässlich der Auflösung eines Treffen der Pfadfinder an der Waldkirche Oberberghausen am 29. April 1934– auch hier war Hans Beck dabei- hatte die Freisinger Polizei das Verbot der Pfadfinder gefordert: „Die konfessionellen Jugendverbände in Freising stehen im groben Gegensatze zu HJ und [Jungvolk] und es sind täglich, fast stündlich, Reibereien zwischen beiden Teilen zu befürchten.“[21]

Eine der Aufgaben der Hitlerjugend war es, die Jugend auf dem Krieg vorzubereiten. Bei einer Schießübung der HJ am Haager Wasserkraftwerk, am 2. Weihnachtsfeiertag eines Jahres zwischen 1933-1937 wurde ein Jugendlicher von einem Kameraden versehentlich erschossen. Nach der Erinnerung einer Haager Zeitzeugin hieß der Tote Rudi Huber, Hausname Metzger Lenz.[22] Die NSDAP-Kreisleitung wollte den Vorgang vertuschen, der Vater des Opfers, der Schmerzensgeld einklagen wollte, fand keinen Anwalt – außer Max Lehner.[23]

Bei der Vertretung von jüdischen Bürgern vor Gericht ging es ebenfalls darum, „formell noch bestehende Gesetz zum Schutz des Einzelnen gegen Willkürakte zur Geltung zu bringen.“ Lehner vertrat Max Schülein in Mietsachen und Oskar Holzer und Siegfried Neuburger in Geschäftsangelegenheiten. Für einen der letzteren hatte er einen „Mahnbrief wegen einer unstreitigen, durch Warenkauf begründeten Restforderung von ca. 20,- RM, für die schon mehrmals Stundung gewährt worden war“ geschrieben.[24] Die Entrechtung der Juden hatte also auch eine ganz handfeste materielle Seite – bei jüdischen Geschäftsleuten gekaufte Waren wurden einfach nicht mehr bezahlt.

Was mit dem „Gesetz der Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bezweckt wurde war beispielsweise in den „Freisinger Nachrichten“ unter dem Titel „Freising und die Erbkranken“ nachzulesen: „Ungeheure Beträge sind […] für die Kategorie jener Menschen, die ihre Krankheit vererben, ausgegeben worden […] Nimmt man die ganze Gruppe dieser körperlich und geistig Minderwertigen, so ergibt sich, dass etwa 80 Einwohner einen Dauerkranken ernähren müssen. […] Freising muss im Jahr den Betrag von 160.000 Mark aufbringen…“[25] Die wenigen Akten, die in einem Bestand des Landratsamtes im Staatsarchiv über Zwangssterilisationen erhalten sind, geben einen Einblick in den Naziterror: Da gibt es beispielsweise einen Erbstreit zweier Brüder, wo ein Bruder den anderen kurzerhand für „geisteskrank“ erklären lassen will, ein Heimkind aus Birkeneck, Martin Niedermaier, mit 14 Jahren als „angeboren schwachsinnig“ sterilisiert, später im KZ Flossenbürg als sog. „Zigeuner“. Immer wieder wehrten sich die Betroffenen und ihre Familien, mussten von der Polizei zwangsweise vorgeführt werden.

Es ist bekannt, dass Lehner zahlreiche Vormundschaften für sog. „Geisteskranke“ übernommen hatte[26] und -nach eigenen Worten- in sog. „Erbgesundheits“-Verfahren „immer gegen Prinzipien der nat.soz. Gewaltherrschaft“[27] auftrat. Über Einzelheiten schweigen leider die Quellen völlig.

Das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform“, kurz Heimtückegesetz stellte regimekritische Äußerungen unter Strafe. Von den von Max Lehner vertretenen Opfern der Verfolgung, die in Konzentrationslager verschleppt wurden, kann ich – nach jetzigem Forschungsstand- zwei namhaft machen: „Fertl habe ich (wohl 1936) persönlich im KZ Dachau besucht und ihm damit mindestens eine moralische Stütze in der schweren Haft gegeben. Ich glaube, es hat sehr wenige Rechtsanwälte gegeben, die das gewagt haben.“[28] Es handelt sich um den Moosburger Metzgermeister Jakob Georg Fertl, (* 18. August 1895), der vom 31. August bis 23. Dezember 1937 im KZ Dachau inhaftiert war.[29] Der „Schutzhaftbefehl“ war vom Landratsamt Freising ausgestellt worden. 1950 war Fertl Zeuge im Verfahren gegen den SS-Mann Hans Steinbrenner, einer der brutalsten Schergen in diesem Lager. Fertl gab dabei als Augenzeuge folgenden Vorfall zu Protokoll: „Für einen Juden, der erst kurz eingeliefert war, mussten Häftlinge ein Loch graben. In dieses Loch musste der Jude hineingestellt und das Loch wieder zugeschaufelt werde. Der Jude stand bis zur Brust eingegraben. Mittags […] wurde der Jude von den Häftlingen eigenmächtig ausgegraben. Er war bewusstlos. Er wurde dann von der SS mit Wasser übergossen und dann abends mit den Kleidern an einen Mast hingenagelt. Ich habe dann erfahren, dass dieser Jude […] gestorben ist.“[30]

Über Max Lehners Klienten Ludwig Ascherl aus Nandlstadt, im KZ Dachau vom 25. Januar 1936 bis zum 22. Oktober 1936[31], ist folgendes zu erfahren: Im Herbst 1934 war er mit den Nazis in Konflikt geraten. Die Polizei wiegelte eine erste Denunziation zunächst noch ab: „Ascherl ist ein dummer unerfahrener einfältiger Mensch, der lediglich auf den schädlichen Einfluss ehemaliger Angehöriger der B.V.P., im Rausch das nachsagt, was er zuweilen von jenen hört.“[32] Ascherl hatte im Wirtshaus Tafelmeier in Nandlstadt die Geldverschwendung anlässlich der “Reichsparteitage” angeprangert und dann, vermutlich an die Adresse des jungen SA-Manns gerichtet, der ihn dann denunzierte: „Wir waren im Krieg und haben für die Lausbuben gekämpft, die uns heute knechten.“[33]

Er protestierte auch gegen die Verhaftung des Gütlers Johann Wimmer, der wenige Wochen zuvor “wegen Beleidigung des Führers” in sog. “Schutzhaft” im Moosburger Gefängnis genommen worden war.[34] „Der ist ein altes Weib, der den Wimmer Hans fort hat.“, meinte er.[35]

Ascherl, geb. am 02. Juli 1897, war Futtermittelhändler und es zeigt sich an der Aussage eines zweiten Belastungszeugen, eines Bauern aus Kitzberg, dass auch Sozialneid mitspielte: „…ich hätte ihn unter den Stuhl hinuntergeschlagen, weil sich der Faulenzer sein Leben lang noch kein Stück Brot mit seiner Hände Arbeit verdient hat. Der lebt nur von den Provisionen aus dem Futtermittelhandel und wir Bauern müssen diese bezahlen.“[36]

Für den Fortgang der Ereignisse fehlen wieder die Gerichtsakten. Immerhin ist zu erfahren, dass das Sondergericht München, bei dem das Verfahren nach dem sog. „Heimtückegesetz“, das regimekritische Äußerungen unter Strafe stellte, anhängig war, das Verfahren an das Landgericht München II überwies, letzteres das Verfahren im Juli 1935 einstellte.[37] Die Schriftsätze des Anwalts Max Lehner werden zu dieser Einstellung beigetragen haben. Der Fall Ascherl zeigt exemplarisch die Willkür des Naziregimes. Ludwig Ascherl kam ins KZ, nachdem die Gerichte eine Verurteilung selbst nach den Unrechtsgesetzen der Nazis abgelehnt hatten und wurde fast ein Jahr dort gequält.

Nach 1945 engagierte sich Ludwig Ascherl in der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.

 

 

*

 

 

 

Nach diesem Überblick über Mandanten und Fälle Max Lehners wollen wir sein weiteres Schicksal verfolgen.

Lehner hatte nicht vor, sich vom Terror der Pogromnacht einschüchtern zu lassen. Als aber der Rechtsanwalt Lehner am 14. November 1938 wieder vor dem Amtsgericht auftrat wurde er im Gerichtssaal von einem Polizisten festgenommen und zu NSDAP-Kreisleiter und Oberbürgermeister Hans Lederer gebracht. Dieser stellte ihm das Ultimatum, binnen zwei Monaten Freising und Süddeutschland zu verlassen, ansonsten käme er in „Schutzhaft“.[38]

Lehner musste sich anderswo eine Existenzmöglichkeit suchen und ging nach Meißen in Sachsen, wo er Anfang Januar 1939 versuchte, als Anwalt zugelassen zu werden.[39] Max Lehner wurde jedoch vorgeworfen, mit der juristischen Vertretung von Juden, gegen die Berufsehre gehandelt zu haben, und man leitete ein Ehrengerichtsverfahren ein, das dann aber doch eingestellt wurde, da die Rechtslage eindeutig war. Anwaltschaftliche Vertretung von Juden war zwar aus nationalsozialistischer Sicht unerwünscht, aber noch nicht ausdrücklich verboten worden.[40]

Mit der Erledigung des „Ehrengerichtsverfahrens“ ließ sich der „nationalsozialistische Rechtswahrer-Bund“, so der Name der Standesorganisation, Zeit: So erfolgte Lehners Zulassung als Rechtsanwalt erst nach 10 Monaten. In der Zwischenzeit lebte er, arbeitslos, von seinen Ersparnissen.

Nach wenigen Monaten als Rechtsanwalt in Meißen kehrte Max Lehner im Dezember 1939 nach Bayern zurück und erhielt eine Anstellung bei einer Außenstelle des Reichsverkehrsministeriums in München, das sein Studienfreund Dr. Erwin Deischl,[41] als „Beauftragter für den Nahverkehr“ leitete.[42]

Im Februar 1940 wurde dies in Freising bekannt und NSDAP-Kreisleiter Carl Lederer betrieb Lehners Entlassung: „Rechtsanwalt Max Lehner, der in Freising als Gegner des nationalsozialistischen Staates bekannt war, hat bis Anfangs November 1938 (Judenaktion) Freisinger Juden vor Gericht noch vertreten. Diese Charakterlosigkeit wurde allgemein bekannt und Lehner sah sich gezwungen, seine Praxis in Freising gegen eine solche in Mitteldeutschland auszuwechseln. Damit war für Freising der Fall Lehner erledigt. Wie ich nun erfahre, soll Lehner im Bayer. Innenministerium eine Anstellung erhalten haben. Sollte dies zutreffen, so bitte ich, bemüht zu sein, dass die zuständigen Stellen von der politischen Unzuverlässigkeit des Lehner erfahren und seine Abberufung unverzüglich tätigen.“, so der Kreisleiter an die Gauleitung.[43]

Lederer hatte jedoch vorläufig keinen Erfolg; wie aus einem undatierten Aktenvermerk hervorgeht, wollte der Kreisleiter „bei der vorgesetzten Dienststelle des Lehner vorsprechen. Dabei wurde er glatt abgefertigt und musste er unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren. Auch dieses Vorkommnis wirkte sich in Freising nicht günstig aus und ist vornehmlich für den Kreisleiter und seinen Einfluss auf die Bevölkerung eine nicht tragbare Situation geworden.“[44]

Deischl, PG seit 1933, verteidigte seinen Mitarbeiter Lehner vehement: „Die Anstellung ist erfolgt, nachdem von Seiten der Geheimen Staatspolizei geprüft worden war, ob er die Voraussetzungen zur Ausübung seines Dienstes in politischer, spionagepolizeilicher und strafrechtlicher Hinsicht erfüllt. Von Seiten des Sicherheitsdienstes ist auf die angezogenen Vorfälle in Freising hingewiesen worden. Politische Bedenken über seine Verwendung sind aber, wie die Geheime Staatspolizei ausdrücklich vermerkt, bei der vorgesehenen Verwendung nicht vorhanden.“

Lehner lege „außerordentliche Sachkenntnis und überdurchschnittlichen Fleiß an den Tag“, habe „Aktenrückstände von Monaten“ aufgearbeitet. An die Adresse des Kreisleiters gerichtet fuhr Deischl fort: „Es ist Aufgabe der Partei […] alle Kräfte, die irgendwie für den Dienst des Vaterlandes eingesetzt werden können, unbehindert bei den gestellten Kriegsaufgaben zur vollen Entfaltung zu bringen. Selbst wenn Rechtsanwalt Lehner […] gegen Grundsätze verstoßen hat, deren Einhaltung ihm die Freisinger Vorfälle erspart hätte, so müssen in der jetzigen Zeit auch von den unteren Parteistellen derartige Dinge hinter den großen Aufgaben des Krieges zurückgestellt werden und an der inneren und äußeren Front jedem, also auch RA. Lehner die Möglichkeit gegeben werden, durch kriegswichtige Dienste dem Vaterland sein Bestes zu geben. Die heutige Zeit erfordert positive Arbeit und erlaubt nicht, Dinge auszugraben, die als erledigt anzusehen werden müssen und können.“

Waren schon diese Ausführungen ziemlich forsch, so dürfte Erwin Deischl dann deutlich über das Ziel hinausgeschossen zu sein, als er drohte: „Sollte die Angelegenheit hiermit nicht auf sich beruhen bleiben, so würde ich Rechtsanwalt Lehner nahelegen, ein Gesuch an die Kanzlei des Führers zu richten; ich selbst würde dem Chef derselben, Herrn Reichsleiter Bouhler, in dieser Angelegenheit persönlich Vortrag halten.“[45] Deischls Vorgesetzter, Staatssekretär Max Köglmeier,[46] wies dessen Aktenvermerk mit der „Belehrung“, dass Deischl seine Kompetenzen überschritten habe, „als für die weitere Behandlung ungeeignet“ zurück.[47]

Fast ein Jahr – bis Dezember 1940 – währten die Auseinandersetzungen um Lehner, Dr. Deischl musste seinen Mitarbeiter letztendlich aufgeben: „Im Dezember 1940 hatte der [Beauftragte für den Nahverkehr] einen […] Angestellten zur Verwendung im besetzten Gebiet abzugeben. Ich meldete Lehner, weil er wegen der politischen Schwierigkeiten in München nicht mehr zu halten war.“[48]

Dr. Erwin Deischl konnte sich für Lehner nicht mehr verwenden, denn seine Karriere endete abrupt mit seiner Entlassung im Mai 1942. Deischl hatte sich „in herabsetzender Weise“ über Nazigrößen, darunter Göring, geäußert und habe durch „Darstellungen der Kriegsentwicklung die Abwehrkraft des deutschen Volkes zu schwächen versucht“, so die Gauleitung München-Oberbayern an Deischl.[49]

Max Lehner wurde dann nach Brüssel zur Militärverwaltung Belgien und Nordfrankreich versetzt, wo er im Rang eines Kriegsverwaltungsrates für den Nahverkehr zuständig war.

Auch in dieser Position kam es zu Differenzen mit NS-Behörden, wie aus den von Max Lehner hinterlassenen Akten hervorgeht. Es gab, wie für viele Bereiche des Staatsapparats im Naziregime typisch, ein Kompetenzgerangel verschiedener Behörden. Neben der Militärverwaltung unter Dr. Harry von Craushaar[50] gab es eine Behörde des Vierjahresplans, geführt vom „Generalbevollmächtigten für das Kraftfahrwesen“, Generalleutnant Adolf von Schell.[51] Bereits Ende Januar 1941, also nicht lange nach Max Lehners Dienstantritt in Brüssel, sah sich Dr. von Craushaar veranlasst, Lehner bei Schell gegen Angriffe aus dessen Dienststelle zu verteidigen. Es handle sich bei Max Lehner um einen „anständigen und ungewöhnlich tüchtigen Beamten.“ Der Militärverwaltungschef wehrte sich gegen Eingriffe in seine Kompetenzen: „Im fremden Land kann den Einwohnern gegenüber nur einer befehlen. Herr Lehner hat diesen Standpunkt von Anfang an, der Weisung des Militärverwaltungschefs entsprechend, mit aller Bestimmtheit vertreten.“[52] Der Generalbevollmächtigte hingegen forderte Lehners Entlassung. Auch hier war eine Versetzung die Folge: Craushaar kommandierte Max Lehner für ein Jahr nach Lille, Nordfrankreich, ab.[53]

In Lille lehrte Max Lehner seine spätere Frau Viktoria Uhl kennen, die dort bei der Abwehr als Verwaltungsangestellte tätig war und u. a. mit dem späteren SPD-Politiker Carlo Schmid bekannt war.[54] Viktoria Uhl (* 12.12.1912 in Brand im Fichtelgebirge, wohnhaft in Mochenwangen, Kreis Ravensburg[55]), hatte ein für die damalige Zeit ungewöhnliches Frauenleben geführt. Sie hatte von 1932 bis Kriegsbeginn im Ausland gearbeitet, beispielsweise in England als Zofe, in Frankreich als Mitarbeiterin des Welttierschutzvereins auf der Weltausstellung, Nach einer Erinnerung in der Familie war es in Italien zu einem Vorfall gekommen, bei dem ein SS-Mann, der es verwerflich fand, dass eine deutsche Frau im Ausland arbeite, Viktoria Uhl den Reisepass wegnahm, den sie sich aber wieder beschaffen konnte.[56]

Worum ging es bei den Vorwürfen gegen Lehner? Während der „Generalbevollmächtigte“ die völlige Ausplünderung Belgiens betrieb, habe Lehner „seine erste Aufgabe in der Sorge für die Aufrechterhaltung des zivilen Straßenverkehrs gesehen und hat sich hierbei wiederholt in Gegensatz zu Stellen der Wehrmacht und des Vierjahresplanes gesetzt.“[57]

In mehreren Fällen trat er Beschlagnahmungen entgegen, teilweise auch mit Erfolg. In einzelnen ging es um zahlreiche Pkws, 459 Lastwagen, an die 100 Straßenbahnwagen, die in deutsche Städte verbracht wurden und 300 km Gleise der Kleinbahn, die in der besetzten Ukraine Verwendung fanden.

Über die Zeit nach Beendigung des Dienstes in Brüssel – Dezember 1944 – schweigen die Quellen wieder. In der Familie meint man, dass Max Lehner in Siegen, Westfalen als Soldat eingekleidet und für einige Wochen nach Jugoslawien zur Partisanenbekämpfung abkommandiert worden sei. Dann sei er aber wieder in einer Dienststelle in Berlin tätig gewesen, wohin ihm seine spätere Frau nachgereist sei, was nicht ungefährlich war, da sich der Kessel um Berlin zu schließen begann.[58]

Wann genau Max Lehner wieder in seine Heimat Freising zurück kam, ist unbekannt. Im Februar 1946 heiratete er in Freising. Aber sein Leben nach 1945 und seine 22-Jährige Amtszeit als Oberbürgermeister wäre Thema für einen weiteren abendfüllenden Vortrag.

 

  1. Allgemeine Empörung der Freisinger Bevölkerung gegen die jüdische Mordtat, Freisinger Nachrichten (im folgenden FN), 11.11.1938 [↩]
  2. Lederer sprach im Collosseum. Als weitere Redner werden genannt: Bezirksschulrat Lenz (Stiegl-Bräu), Kreisschulungsleiter Dr. Nickl (Grüner Hof) und Ortsgruppenleiter Dr. Kattermann (Neuwirt). FN, 11.01.1938 [↩]
  3. Schutzpolizei der Stadt Freising: „Betreff: Judenaktionen.“, 11.11.1938, StAM, LRA 116523 [↩]
  4. Freundliche Mitteilung von Luise Gutmann, 23.01.2016 [↩]
  5. (Spruchkammer Freising-Stadt, Spruch Max Lehner, AZ J 619/47, 02.09.1947, Begründung., StAM Spruchkammern 3210 Lehner, Max („Judenknecht“); „Vormerkung“, wohl der NSDAP-Gauleitung Oberbayern, undatiert, Kopie im Archiv des Verfassers, freundliche Überlassung durch Luise Gutmann (Tochter von Max Lehner); (im Folgenden „Akten Lehner“), („Judengenosse“). [↩]
  6. Max Lehner studierte vom Sommersemester 1925 bis Wintersemester 1928/1929 an der Ludwig-Maximilians-Universität München Jura. Staatsexamen 2.02.1929 und 28.07.1932, Vereidigung am 31.12.1933, Personenverzeichnisse LMU München, Fragebogen Max Lehner, undatiert [wohl 1939], Akten Lehner [↩]
  7. FN 11.12.1929 [↩]
  8. NSDAP-Kreisleitung Freising, Kreisleiter Carl Lederer an Staatsministerium des Inneren, Staatssekretär Max Köglmaier, 08.03.1940, Akten Lehner [↩]
  9. a. a. O. [↩]
  10. Max Lehner an Leiter Abteilung X im Staatsministerium des Innern (Dr. Erwin Deischl), 19.03.1940, Akten Lehner [↩]
  11. Max Lehner an Leiter Abteilung X im Staatsministerium des Innern (Dr. Erwin Deischl), 190.3.1940, Akten Lehner [↩]
  12. a. a. O [↩]
  13. „Gemeindewahl 1929 Vorbereitung und Durchführung“, StadtAFS, Altakten III – 98 [↩]
  14. Spruchkammer Freising-Stadt, Spruch Max Lehner, AZ J 619/47, 02.09.1947, Begründung, StAM, Spruchkammern 3210 Max Lehner [↩]
  15. Max Lehner an Spruchkammer Freising-Stadt, 02.08.1947, StAM, Spruchkammern 3210 Max Lehner [↩]
  16. Max Lehner an Spruchkammer Freising-Stadt, 14.04.1947, Akten Lehner [↩]
  17. Max Lehner an Spruchkammer Freising-Stadt, 02.08.1947, StAM, Spruchkammern 3210 Max Lehner [↩]
  18. a. a. O. [↩]
  19. a. a. O. [↩]
  20. Eltern: Johann Beck, Obermüller und Rosa, geb. Bichlmeier. Hans Beck wurde am 02.04.1938 zum Reichsarbeitsdienst einberufen. Meldekarte Rosa Beck, StadtAFS. [↩]
  21. Polizei Freising an bayerische politische Polizei München, 30.04.1934, StadtAFS [↩]
  22. Freundliche Mitteilung von Theresia Schindlbeck, Haun, 23.01.2016. Frau Schindlbeck datiert den Vorfall auf 26.12.1940. Die Jahresangabe kann nicht zutreffen, da Max Lehner zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Rechtsanwalt tätig war. Der Todesschütze soll Max Grassl, Hofname Kramer, gewesen sei, der später im 2. Weltkrieg fiel. [↩]
  23. Max Lehner an Spruchkammer Freising-Stadt, 02.08.1947, StAM, Spruchkammern 3210 Max Lehner [↩]
  24. Max Lehner an Leiter Abteilung X im Staatsministerium des Innern (Dr. Erwin Deischl), 19.03.1940, Akten Lehner [↩]
  25. „Freising und die Erbkranken“, FN, 05.10.1933 [↩]
  26. Max Lehner an Leiter Abteilung X im Staatsministerium des Innern (Dr. Erwin Deischl), 19.03.1940, Akten Lehner [↩]
  27. Max Lehner an Spruchkammer Freising-Stadt, 02.08.1947, StAM, Spruchkammern 3210 Max Lehner [↩]
  28. a. a. O. [↩]
  29. Häftlingsdatenbank, Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau [↩]
  30. Zeugenaussage Jakob Fertl, 30.05.1950, StAM Staatsanwaltschaften 34462/5, S. 138 [↩]
  31. Häftlingsdatenbank, Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau [↩]
  32. Gendarmeriestation Nandlstadt an Bezirksamt Freising, 11.09.1934, StAM LRA 116516 [↩]
  33. a. a. O. [↩]
  34. Gendarmeriestation Nandlstadt an Bezirksamt Freising, Politischer Wochenbericht, 14.09.1934, StAM LRA 116516 [↩]
  35. Gendarmeriestation Nandlstadt an Bezirksamt Freising, 11.09.1934, StAM LRA 116516 [↩]
  36. a. a. O. [↩]
  37. Staatsanwaltschaft am Landgericht München II an Bezirksamt Freising, 12.07.1935, StAM LRA 116516 [↩]
  38. Max Lehner an Spruchkammer Freising-Stadt, 14.04.1947, Akten Lehner [↩]
  39. Oberlandesgerichtspräsident Dresden an Max Lehner, 09.01.1939, Akten Lehner [↩]
  40. Nationalsozialistischer Rechtswahrer-Bund, Gauehrengericht München-Oberbayern an Rechtsanwalt Dr. Ludwig Roder (von Max Lehner mit seiner Vertretung beauftragt), 30.06.1939, Akten Lehner, Max Lehner, „Anlage zum Fragebogen Max Lehner“ , undatiert [ca. 1947], Akten Lehner [↩]
  41. Joachim Lilla: Deischl, Erwin, in: ders.: Staatsminister, leitende Verwaltungsbeamte und (NS-)Funktionsträger in Bayern 1918 bis 1945, URL: (26. November 2014). [↩]
  42. Max Lehner, „Anlage zum Fragebogen Max Lehner“, undatiert [1947], Akten Lehner [↩]
  43. NSDAP-Kreisleitung Freising, Carl Lederer, an NSDAP-Gauleitung München-Oberbayerrn, Gaurechtsamt, 02.02.1940, Akten Lehner [↩]
  44. „Vormerkung“, wohl der NSDAP-Gauleitung Oberbayern, undatiert, Akten Lehner [↩]
  45. Staatsministerium des Innern, Abteilung X (Dr. Erwin Deischl), „Aktenvermerk in der Angelegenheit Max Lehner“, 20.3.1940, Akten Lehner [↩]
  46. Biographie: https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Köglmaier [↩]
  47. Staatssekretär Max Köglmaier an Dr. Erwin Deischl, 21.02.1940, Akten Lehner [↩]
  48. Dr. Erwin Deischl, Erklärung an Eidesstatt, 20.09.1946, Akten Lehner [↩]
  49. zitiert nach Lilla, a. a. O. [↩]
  50. https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_von_Craushaar [↩]
  51. https://de.wikipedia.org/wiki/adolf_von_schell [↩]
  52. Militärverwaltungschef Dr. von Craushaar an Generalleutnant von Schell, Unterstaatssekretär im Reichsverkehrsministerium (Generalbevollmächtigter für den Nahverkehr), 24.01.1941, Akten Lehner [↩]
  53. Dr. Erwin Deischl, Erklärung an Eidesstatt, 20.09.1946, Akten Lehner [↩]
  54. Freundliche Mitteilung von Luise Gutmann, 22.01.2016 [↩]
  55. Meldekarte Viktoria Lehner, StadtAFS [↩]
  56. Freundliche Mitteilung von Luise Gutmann, 22.01.2016 [↩]
  57. Walther Wetzler, Eidesstattliche Erklärung, 20.09.1946, Akten Lehner [↩]
  58. Freundliche Mitteilung von Luise Gutmann, 22.01.2016 [↩]
Korbinian Krottenthaler aus Neufahrn

„Der Angeklagte ist nach den Feststellungen des Gerichts in mässigen Grade angeboren schwachsinnig. Aufgrund dieser minderwertigen Anlage, die durch schlechte Erziehung und verderbliche Umwelteinflüsse noch verstärkt wurde, ist er nicht in der Lage, seine Gemütserregungen ohne Verstoß gegen die Strafgesetze abzureagieren.“[1] Diese Einschätzung des Oberstaatsanwalts war faktisch das Todesurteil für Korbinian Krottenthaler aus Neufahrn.

Wenn man heute das Schicksal von Korbinian Krottenthaler rekonstruieren will, muss muß man eines vorausschicken: Sämtliche Akten über die Strafprozesse gegen Krottenthaler sind – mit Ausnahme des oben zitierten Revisionsantrags- vernichtet. Zeitungsberichte, in der Diktion der Nazis abgefasst, sind keine objektiven Zeugen. Auf jedem Fall aber steckt im Umgang mit Korbinian Krottenthaler ein gerüttelt Maß Naziideologie. Von den „minderwertigen Anlagen“ war schon die Rede und „Minderwertige“ hatten im 3. Reich keine Gnade zu erwarten.

Mit dem Vorbehalt also, dass die Quellen subjektiv gefärbt sind, subjektiv gefärbt zu ungunsten von Korbinian Krottenthaler, lässt sich in etwa Folgendes festhalten: Korbinian wurde am 9. Juli 1907 in Anglberg geboren und lebte mit seiner Mutter Therese Krottenthaler in Neufahrn. Therese Krottenthaler betrieb eine kleine Landwirtschaft. Ebenfalls in Neufahrn, später in Schwaig lebte Korbinians Tante, Therese Krottenhalers Schwester Maria Großkopf. Zwischen den beiden Schwestern herrschte zeitweilig eine heftige Feindschaft, in die die Familienmitglieder verwickelt wurden.[2]

Anlässlich eines Gerichtsverfahrens wird über Korbinian berichtet: „In der Schule sei er über die erste Klasse nicht hinausgekommen … In seelischer Beziehung fällt sein gehemmtes Wesen auf. Sein Wissen ist sehr gering. Der Sachverständige bezeichnete ihn als einen schwachsinnigen Menschen.“[3] Korbinian Krottenthaler war also wohl debil.

1932 war seine Tante Maria Großkopf mit Familie Eicher, der sie ihr Anwesen verkauft hatte, in Streit geraten. Sie hetzte ihren Neffen Korbinian auf, nachts mit einer Schreckschusspistole durch das offene Schlafzimmerfenster von Eicher zu schießen, „daß eahms Grausen kimmt“ und er seinen Besitz wieder verkaufen würde. Der Schreckschuss wurde erst am nächsten Morgen bemerkt.

Das Landgericht München II verurteilte Korbinian Krottenthaler wegen dieser Schreckschussattacke im Dezember 1932 zu neun Monaten Gefängnis.[4]

In der Folge prägte die Presse den Begriff von „eine(r) „kriminelle(n)“ Verwandtschaft“.[5]

Im Jahr 1932 hatte der Erdinger Bauernbund-Landtagsabgeordnete Lutzenberger -der sich 1933 sofort der NSDAP anschloss- in einer Anfrage den Verdacht geäußert, eine „umstürzlerische Geheimorganisation“ könnte hinter den zahlreichen Brandstiftungen im Landkreis Freising stehen. Immerhin waren allein in Neufahrn 1931 sieben Anwesen angezündet worden. Die Wahrheit war viel prosaischer: In der Zeit der Weltwirtschaftskrise, der Zeit absoluter Verarmung weiter Teile der deutschen Bevölkerung, suchten sich Einige mit Brachialgewalt zu helfen. Sie zündeten ihre brandversicherten Häuser an und kassierten die Versicherungssumme.

So auch Therese Krottenthaler, die ihren Neffen, Johann Stix, anheuerte, den Stadel niederzubrennen. Maria GroĂźkopf, die davon wuĂźte, wurde mitverurteilt.[6]

Aus Rache zeigte Maria Großkopf, mit ihrer Schwester verfeindet, Korbinian an: Er habe in den letzten fünf Jahren seine minderjährigen Cousinen sexuell belästigt. Auch hier wurde Krottenthaler zu einer Haftstrafe verurteilt.[7]

Aus der Haft zurückgekehrt wurde Korbinian Krottenthaler 1939 erneut straffällig, ohne dass -aufgrund der fehlenden Akten- Näheres bekannt ist. Erneut war das Delikt Brandstiftung.

Schon in einem vorherigen Prozess hatte die Zeitung festgestellt, dass Korbinian „das Verständnis für seine Lage unzweifelhaft fehlte.“ Als ihm das Urteil zur Gefängnisstrafe verkündet wurde, antwortete er: „I möcht jetzt nach Haus.“ Trotzdem wird behauptet: „Er will dümmer erscheinen, als er ist.“[8]

Dass man es hier nach eigenen Angaben mit einem geistig Behinderten oder Debilen zu tun hatte, hinderte die NS-Justiz nicht, ihn zu verurteilen. Jetzt zu vier Jahren Zuchthaus. Gegen das Urteil legte der Oberstaatsanwalt erfolgreich Revision ein, denn es bestünde „kein Zweifel, dass der Angeklagte unter den Begriff „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ fällt.“ Er forderte „Sicherheitsverwahrung“: „Im Hinblick auf seine Schwachsinnigkeit ist nicht zu erwarten, dass die Strafe … eine … abschreckende Wirkung ausüben wird …Wie bereits festgestellt, handelt es sich bei dem Angeklagten um eine minderwertige Persönlichkeit. Da ihm seine zu verbrecherischer Betätigung neigenden charakterlichen Eigenschaften angeboren sind, wird sich auch in Zukunft an seinem inneren Hang zur Verbrechensbegehung nichts ändern.“[9]

Es folgte ein Leidensweg durch verschiedene Haftanstalten. Bezeichnend für den Umgang mit NS-Verbrechen ist eine Aktennotiz der Staatsanwaltschaft München aus dem Jahr 1947, in dem Krottenthalers erster Haftort nach dem Zuchthaus Kaisheim, das KZ Mauthausen, beschönigend „Arbeits- und Erziehungslager“ genannt wird.[10] Von Mauthausen wurde er zunächst in dessen Außenkommando Gusen (bei Linz) verschleppt, im April 1943 nach Auschwitz. Etwa Anfang März 1945 wurde er nach Neuengamme deportiert. Von hier erhielt Korbinian Krottenthalers Mutter am 19. März 1945 ein letztes Lebenszeichen.[11] Ein Dokument des Internationalen Suchdienst vermerkt dann: „b. d. Evakuierung d. Lagers Neuengamme in der Neustädter Bucht ertrunken.“[12]

Es gab einen Befehl Heinrich Himmlers, dass kein KZ-Häftling lebend in die Hände der Alliierten fallen solle. In Neuengamme wurden Ende April 1945 etwa 9.000 Häftlinge auf den Todesmarsch getrieben und bei Lübeck auf drei Schiffe, „Thielbeck“, „Cap Arkona“ und „Athen“ verbracht. Am 28. April 1945 hatte die „Cap Arcona“ rund 4.300 Häftlinge an Bord. Sie war total überfüllt und komplett manövrierunfähig. Es gab weder Trinkwasser noch Lebensmittel für die Häftlinge. Die Leichen wurden an Deck gestapelt. Am 3. Mai 1945 wurden die Schiffe, deren Funktion als KZ von außen nicht erkennbar war, von der britischen Luftwaffe bombardiert, gerieten in Brand und kenterten. Rettungsboote für die Häftlinge gab es nicht. Viele der halbverhungerten Häftlinge sprangen in die kalte See, um sich zu retten. Die meisten von ihnen ertranken. Die SS-Leute schossen noch von den sich neigenden Schiffen aus auf die Überlebenden. Wer es an Land schaffte, wurde dort von SS-Wachmannschaften erwartet und ermordet.

Vielleicht liegt Korbinian Krottenthaler in einem der wenigen Gräber rund um die Neustädter Bucht. Die meisten Leichen allerdings konnten nie geborgen werden und bis in die 60er Jahre konnten an den nahen Ostseestränden noch menschliche Knochen gefunden werden.

  1. Oberstaatsanwalt am Landgericht München II, Revisionsanträge und Begründung, 17. Mai 1939, StAM, Staatsanwaltschaften 14727 [↩]
  2. FN 11.3.33, FT 8.7.32, 2.6.33, 10.6.33 [↩]
  3. FT 10.6.33 [↩]
  4. FN 11.3.33 [↩]
  5. Überschrift eines Artikels der FN 11.3.33 [↩]
  6. FN 11.3.33 [↩]
  7. FT 10.6.33 [↩]
  8. FT 10.6.33 [↩]
  9. Oberstaatsanwalt am Landgericht München II, Revisionsanträge und Begründung, 17. Mai 1939, StAM, Staatsanwaltschaften 14727 [↩]
  10. Staatsanwaltschaften am Landgericht München II, Aktennotiz, 17.1.1947, StAM, Staatsanwaltschaften 14727 [↩]
  11. Landpolizeiposten Neufahrn an Oberstaatsanwalt beim Landgericht München II. 10.6.47, StAM, Staatsanwaltschaften 14727 [↩]
  12. Untersuchungs-Antrag, 21.1.1952, ITS 90077677#1 [↩]

     

    Georg Ziegltrum

     

    Im September 1933 meldete das Tagblatt: „Ein Volksschädling verhaftet.“ Die „Inschutzhaftnahme“ von Georg Ziegltrum wurde folgendermaßen begründet: „Es ist notwendig, daß unser Wirtschaftsleben endlich von den Hyänen befreit wird, die die Not des Volksgenossen in schamlosester Weise zu ihrem eigenen Vorteil ausnützen wollen.“[1]

    Georg Ziegltrum, geb. am 27.11.1899 in Nörting, war in Lerchenfeld, Pfalzgrafstr. 3, als Immobilienberater tätig und vermittelte besonders bei Umschuldungsverfahren von Bauernhöfen. „Rücksichtlos und ausbeuterisch“ sei Ziegltrum gewesen, so die Darstellung, aber vielleicht stecken doch andere Gründe hinter der Verhaftung. Die systematische Hetze der NSDAP gegen Ziegltrum bei der Landbevölkerung hatte nämlich anfänglich nicht den gewünschten Erfolg, wie der Freisinger Nazi Bitterauf in Kirchdorf beklagte: „Mit Entrüstung wies der Redner das Benehmen mancher Leute zurück, die sich unbegreiflicherweise dazu herbeiließen, die Tätigkeit des sauberen Herrn unterschriftlich als reell zu bezeichnen und mit solchen … Darstellungen den Behörden … in den Rücken zu fallen.“[2] Wenn die Angaben der Nazis stimmen, was natürlich keineswegs sicher ist, hätte sich Ziegltrum fälschlicherweise als Parteimitglied ausgegeben, ein Konjunkturritter.

    Ziegltrum wurde zehn Monate im KZ Dachau gefangengehalten[3] und nach einer Denunziation der NSDAP-Kreisleitung dort viel zu gut behandelt: Er habe „auf dem Hofe nur immer Papierschnitzel zusammenlesen müssen“ und sogar Zigarettenkippen zum Rauchen bekommen.[4] Im Juli 1934 nach Freising zurückgekehrt versuchte Ziegltrum, sein Gewerbe wieder aufzunehmen, was ihm nicht mehr gelang. Akten zu den Vorgängen sind nur sehr bruchstückhaft vorhanden. Im Februar 1935 ermittelte die Freisinger Polizei gegen ihn, da er nicht in der Lage war, Geld eines Kunden, das er als Vorschuss für eine Umschuldung erhalten hatte, in voller Höhe zurückzuzahlen. Obwohl eine Rente als Sicherheit für eine Ratenzahlung anbot, wurde die Sache als Unterschlagung und Betrugsversuch gewertet.[5] Am 26. Februar 1934 wurde Georg Ziegltrum wieder nach Dachau verschleppt.[6]

    Bei der NSDAP-Kreisleitung war man längst entschlossen, ihn zu vernichten. Denn als er eine neue Tätigkeit aufnahm, nämlich die Herstellung und den Verkauf von „Erbhof- und Heimatchroniken“ forderte die Kreisleitung von der Bayerischen Politischen Polizei, dies zu unterbinden. Als Begründung reichte aus, wie die NSDAP-Gauleitung München-Oberbayern mitteilte, dass „die Chroniken …mit der nat.soz. Bewegung auf keinen Fall irgendetwas zu tun (hätten). Man darf nur das Auge Gottes betrachten, das im Bild angebracht ist, auch die sonstige Aufmachung spricht entschieden gegen die Verbreitung dieser Chroniken.“[7]

    Das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ vom November 1933 führte, ausgehend von pseudowissenschaftlichen, sog. „rassenbiologischen“, Ansätzen die „Sicherungsverwahrung“ ein. „Sicherungsverwahrung“ im 3. Reich hieß Konzentrationslager. Der Begriff „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ war äußerst dehnbar. Georg Ziegltrum fiel jedenfalls darunter. Er überlebte die „Sicherungsverwahrung“ nicht. Nach einer Inhaftierung im KZ Börgermoor im Emsland wurde er in das KZ Neuengamme bei Hamburg deportiert. Dort wird am 14. Mai 1943 mit der fingierten Todesursache „Versagen von Herz und Kreislauf bei Magen- und Darmkatarrh“ sein Tod gemeldet.[8]

     

    1. FT 23.9.33 [↩]
    2. T 15.10.33 [↩]
    3. Ermittlungen städtische Polizei Freising, 12.2.1935, StAM LRA 116516 [↩]
    4. NSDAP-Kreisleitung Freising an Bayerische Politische Polizei, 31.12.1935, BArch (ehem. BDC) DS/ Ziegltrum, Georg [↩]
    5. Ermittlungen städtische Polizei Freising, 12.2.1935, StAM LRA 116516 [↩]
    6. ITS, 846988780#1 [↩]
    7. NSDAP-Gauleitung München-Oberbayern an Bayerische Politische Polizei, 31.1.1936, BArch (ehem. BDC) DS/ Ziegltrum, Georg [↩]
    8. Sterbebuch Standesamt Hamburg, ITS 3490309#1 [↩]
    Karl Plättner (1893-1945) - Wege und Irrwege eines deutschen Kommunisten

    „Vergewaltigung durch Mehrheitsbeschluss ist die größte Gefahr für einen Revolutionär“ – das schrieb Karl Plättner 1919 und nach diesem Motto hat er sein Leben lang gelebt. Es gibt wohl niemanden in der deutschen Arbeiterbewegung, der so oft in Widerspruch geriet zu Autoritäten, einschließlich der eigenen Parteizentrale, ja den Widerspruch durch sein Verhalten und seine Schriften geradezu herausforderte.

    Allein das Vokabular, mit dem er gegen echte oder vermeintliche Gegner zu Felde zog, zeigt, dass dieser Mann nicht einfach war. Da gibt es „sozialdemokratische Hampelmänner“, „Haufen feiger Kriecher“, „Parteischwätzer“, die „wortreichradikale Partei“, den „Club von Revolutionsschmarotzern“, „Ergraute „Grüne Tisch“-Revolutionäre“, den „Reichsschlachtmeister, den man in der kapitalistischen Welt Reichspräsident Ebert nennt“, „die Hindenburgs, diese vollgefressenen, menschlich, geistig und moralisch entleerten Figuren“, „die weiße, aber dennoch verdreckte Justizbestie.“

    Es überrascht daher nicht, dass der Mann, der einmal einer der bekanntesten Persönlichkeiten der Linken in der Weimarer Zeit war, heute weitgehend vergessen ist. Denn zur Heldenverehrung in einem Revolutionsmuseum eignet er sich nicht. Auch ich werde – der Titel „Wege und Irrwege“ verrät es, heute keinen makellosen proletarischen Helden vorstellen; wer das erwartet, den muss ich leider enttäuschen. Als VVN-BdA erinnern wir an alle Opfer des Naziregimes, wir suchen uns nicht die aus, die uns besonders sympathisch sind.

    Eine zweite Vorbemerkung ist nötig: Wenn man über Karl Plättners Leben berichtet, kommt man nicht umhin, historische Ereignisse, die z. B. heute noch in der Arbeiterbewegung umstritten sind, zu streifen. Eine ganze Reihe von Korreferaten könnte ich heute halten, Z. B. über die Märzaktion, die Differenzen zwischen Linksradikalen und Spartakusbund usw. Ich verzichte aus Zeitgründen darauf und bitte, falls tatsächlich Detailfragen diskutiert werden sollen, das dann nach Ende des Referats einzubringen.

    Und noch eine letzte Vorbemerkung: Der Mann, der heute vor 65 Jahren in Freising starb, war kein „großer Sohn der Stadt Freising“, es war ein reiner Zufall, dass sein Leben in unserer idyllischen Domstadt endete. Aber in einer Stadt, die eine Gedenktafel für Napoleon hat, der eine Nacht in einem Freisinger Gasthaus nächtigte, wird es trotzdem erlaubt sein, an Karl Plättner zu erinnern.

    I. Familie, Kindheit, Jugend[1]

    Karl Robert Plättner wurde am 03. Januar 1893 in dem Dorf Opperode im Mansfelder Land geboren. Seine Eltern, der 20jährige Arbeiter David Friedrich Gustav Plättner und die 24jährige Friederike Helmholz waren zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht verheiratet, was in der damaligen Zeit in ärmeren Bevölkerungskreisen nicht ungewöhnlich war. Später heirateten die Beiden und hatten noch weitere 6 Kinder.

    1905 zog die Familie nach Thale im Harz, einem Ort, wie er widersprüchlicher nicht sein konnte. Einerseits ein Luftkurort, der bevorzugt von wohlhabenden Bürgern aufgesucht wurde, auf der anderen Seite das große Eisenhüttenwerk mit fast 5.000 Arbeitern, wo der Vater Arbeit fand und der junge Karl Plättner seine Lehre als Former absolvierte. Irgendwann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verdrängten Lärm und Abgase der Fabrik endgültig die letzten Kurgäste.

    Über das Verhältnis von Karl Plättner zu seinen Eltern ist wenig bekannt. Er selber bezeichnete später seine Eltern –obwohl sie Arbeiter waren- als „Kleinbürger“ und behauptete auch, seine Abneigung gegenüber der Polizei stamme aus Kinderjahren: „Meine Eltern, denen es an pädagogischen Kenntnissen mangelte, drohten uns Kindern bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mit dem „Schutzmann“. So wurde mir der Polizist zum Inbegriff allen Schreckens.“[2]

    In politischer Hinsicht stand der Vater dem Sohn nicht nahe, denn als 1917 nach Karl Plättner wegen seines Engagements für den Frieden gefahndet wurde, holte man vom Ortsvorsteher von Thale eine Auskunft über den Vater ein, die ergab, dieser habe sich „in jeder Beziehung einwandfrei geführt“ und stehe „staatsfeindlichen Bestrebungen … fern.“[3] Dennoch war das Verhältnis zwischen Eltern und Sohn gut; David Plättner setzte sich z.B. für die Amnestie des zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilten Karl ein und als während dessen Haftzeit die Mutter schwer erkrankte und schließlich starb, versuchte Karl Plättner vergeblich, Hafturlaub zu bekommen. Erbittert beschrieb er die Auseinandersetzungen in seinem Gefängnisbuch „Der mitteldeutsche Bandenführer“.[4] Immer wieder mal, wenn er nicht auf der Flucht oder im Gefängnis war, besuchte Karl Plättner seine Eltern und wenn es –was ich bezweifle- so etwas wie Heimat in Plättners Leben gab, dann war es sicher Thale.

    Während der Ausbildung in Thale kam Karl Plättner mit der Arbeiterbewegung in Kontakt und schloss sich an. Er gehörte zum Leserkreis der Zeitung „Arbeiterjugend“, war Mitglied im Arbeiterturnverein „Einigkeit“ und Jugendleiter der sozialdemokratischen Jugend. Mit 15 Jahren -1908- wurde er wegen „öffentlicher Beleidigung“ zu wahlweise 45 Mark Geldstrafe oder 15 Tagen Gefängnis verurteilt, leider ist unbekannt, um was es sich genau handelte.

    II. Gegen den Krieg

    1912 zog Karl Plättner nach Hamburg und fand Arbeit als Former in der Firma Schwaegermann in Wandsbeck, eine Maschinenfabrik, die auf Bedarf des Schiffbaus spezialisiert war. In seiner Freizeit widmete Plättner viel Engagement dem Jugendbund, wo er eine Abteilung leitete und z.B. Vorträge, Leseabende und Ausflüge organisierte.

    Mit 18 Jahren trat er in die SPD ein, sowie in die Gewerkschaft, den Deutschen Metallarbeiterverband (DMV). In beiden Organisationen übernahm er rasch Funktionen: Im DMV war er Vertrauensmann, in der SPD Delegierter der Hamburger Landesorganisation. Hamburg war mit 68.000 SPD-Mitgliedern (bei 1 Mio Einwohnern der Stadt) eine Hochburg der SPD. Diese Stärke war allerdings trügerisch, denn die Mehrheit der Parteimitglieder in Hamburg gehörte zum rechten Parteiflügel, obwohl auf der Linken auch einige prominente Mitglieder der späteren KPD in Hamburg wirkten, so Dr. Heinrich Laufenberg (der 1912 aller Parteiämter enthoben worden war) und Paul Frölich.

    Die Ereignisse beim Ausbruch des 1. Weltkriegs sind bekannt. Die SPD, die nicht nur die internationale Solidarität als Grundsatz vertreten hatte, sondern sogar internationale Kongresse, Massendemonstrationen gegen die Kriegsgefahr veranstaltete hatte, gab jeden Widerstand gegen den Krieg auf, stimmte den Kriegskrediten, ohne die der Krieg nicht geführt hätte werden können, zu und beteiligte sich an der nationalistischen Hetze gegen Frankreich und Rußland. Karl Plättner nannte das später einen „ungeheuren Verrat an der Idee des Sozialismus“ und dieser Verrat der Sozialdemokratie veränderte sein Leben.

    Entgegen der Hamburger SPD-Mehrheit, traten viele Arbeiterjugendliche in der Hansestadt von Anfang an gegen den Krieg auf. Am 3. August 1914 z. B., dem Vorabend der Zustimmung zu den Kriegskrediten, zogen die Jugendlichen aus Karl Plättners Abteilung demonstrierend durch ein Villenviertel.

    Von den folgenden Auseinandersetzungen zwischen der Jugend und der Mehrheitspartei, die ihren rebellischen Jugendverband schließlich selbst auflöste, bekam Karl Plättner wenig mit. Denn er war mit 21 Jahren im „besten Kanonenfutter-Alter“ und wurde bereits im September 1914 an die Front geschickt. Er kämpfte in Frankreich und kam um die Jahreswende 1915/16 als Invalide wieder. Seine Verwundung war zwar relativ leicht, aber folgenreich. Drei Finger der rechten Hand blieben steif, in seinem erlernten Beruf als Former konnte Karl Plättner nicht mehr arbeiten. Er nahm eine Stelle als „Hilfsschreiber“ bei der AOK an.

    Die Nachfolgeorganisationen der sozialdemokratischen Jugend waren mittlerweile für illegal erklärt worden. Plättner wurde jetzt, wie ein Polizeibericht vermeldete „die Seele der radikalen Jugendbewegung“, die gegen den Krieg aktiv wurde und dies nicht nur in Hamburg. Seinen Job bei der AOK gab er auf und zog zu seiner Freundin, Bertha Dahm, die mit 23 Jahren bereits verwitwet war und im September 1917 ein Kind zur Welt brachte. Karl bezeichnete Bertha stets als seine Verlobte, heiratete sie aber nicht. Dazu war bei ihrer illegalen Arbeit zunächst wohl auch keine Zeit: Karl hatte die Redaktion einer illegalen Zeitung, der „Proletarier-Jugend“, Bertha übernahm die Verbreitung. Um die Jahreswende 1916/1917 begann Karl Plättner dann, Kontakte zu linken Jugendgruppen in ganz Deutschland zu knüpfen, um eine große Aktion gegen den Krieg zustande zubringen. Und hier wurde er erstmals in eine Auseinandersetzung innerhalb der Linken verwickelt.

    Aus den örtlichen meist kleinen sozialdemokratischen Antikriegs-Gruppen, die unter Bedingungen der Illegalität und der Schikanen durch die SPD aktiv wurden, hatten sich nach und nach zwei in verschiedenen Fragen differierende, auch konkurrierende und streitende Organisationen entwickelt. Einmal der Spartakusbund mit Rosa Luxemburg als Theoretikerin und Karl Liebknecht im Reichstag. Dann die „Linksradikalen“, später „Internationale Kommunisten Deutschlands“ (IKD), zu denen z.B. der sächsische Reichstagsabgeordnete Otto Rühle gehörte, auch die Hamburger um Laufenberg, deren Hochburg aber Bremen war, wo -eine absolute Ausnahmeerscheinung – die Mehrheit der SPD-Mitglieder der Linken angehörte und Johann Knief die Zeitung „Arbeiterpolitik“ herausgab. Knief war es auch, der im März 1917 Plättner und seine Hamburger Jugendlichen für die Linksradikalen gewann.

    Neben anderen Fragen[5] war zwischen Spartakus und Linksradikalen strittig, wie sich die revolutionären Kräfte organisieren sollten. Während Luxemburg den Spartakusbund innerhalb der 1917 gegründeten USPD organisierte, aus der Taktik heraus, möglichst viele linke Sozialdemokraten herüberzuziehen, setzten die Linksradikalen frühzeitig auf die Gründung einer neuen, kleinen, aber prinzipienfesten Partei. Sie sahen nicht nur in dem Verrat der SPD-Spitze das Problem, sondern auch im Zentralismus und hierarchischen Aufbau der Partei.

    Karl Plättner war fest davon überzeugt, dass sich die linken Jugendgruppen der neu zu gründenden Partei anschließen müssten und versuchte entsprechend, diejenigen, die bei Spartakus organisiert waren, anzuwerben. Dabei hatte er nur teilweise Erfolg.

    Im November 1916 war Plättner noch SPD-Mitglied gewesen und auf einer Delegiertenkonferenz aufgetreten: „Die Waffen sind es nicht, die diesen Krieg beenden, auch nicht die herrschenden Klassen, sondern das Volk ist es, das dem Krieg ein Ende bereitet.“

    Von dieser Grundüberzeugung ausgehend, warb Plättner für den politischen Massenstreik. Im Juli 1917 verfasste er mit seinem Freund und Genossen Karl Becker ein Flugblatt mit dem Titel „Wie lange noch?“: „Drei Jahre schon tobt der Weltkrieg. In den blutdurchtränkten Schlachtfeldern Europas faulen die Proletarierleiber zu Millionen. Nach Millionen zählen die zu Krüppeln Zerschossenen; nach Tausenden die Bejammernswerten, die die Nacht des Wahnsinns umfangen hält. Und daheim darben Mütter und Frauen, Kinder und Greise. …Wie lange noch? Wie lange noch? Es gibt eine Macht, die dies alles mit wuchtigen Hieben in Trümmer schlagen kann. Sie braucht sich nur zu recken, und die Herren packt schlotternde Angst. Sie kann in wenigen Tagen dem Hunger und den Tränen, dem Morden und Bluten ein Ende machen. Ihr Arbeiter, auf euren Schultern ruht die ganze Macht der großen Herren, eurer Unterdrücker, Peiniger und Mörder. Dreimal vierundzwanzig Stunden nicht mehr den Hahn gespannt, nicht mehr den Schuß gelöst, keine Granate mehr gedreht: und der Krieg ist zu Ende und eure Macht beginnt.“[6]

    Eineinhalb Jahre später waren es dann ja desertierende Soldaten und streikende Arbeiter, die den Krieg beendeten. Noch aber war es zu früh. Der Versuch, bei den Jugendlichen eine Streikbewegung für den 2. September 1917, dem internationalen Jugendtag, zu entfachen, schlug fehl. Und kurze Zeit später, am 15. September 1917, gelang es der Polizei, Karl Plättner zu verhaften. Gegen ihn wurde die „militärische Sicherheitshaft“ verhängt. Sein Engagement für den Frieden -man nannte es Hochverrat- brachte den 24jährigen ins Gefängnis.

    III. Die Revolution 1918/1919

    Aus seinem Gefängnis in Dresden wurde Plättner am 08. November 1918 befreit, kurz bevor nach mehr als einjähriger Haft sein Prozess hätte stattfinden sollen. Die Revolution war ausgebrochen, revolutionäre Dresdner Arbeiter und Soldaten zogen zum Gefängnis und befreiten die politischen Gefangenen. In den „Revolutionären Arbeiter- und Soldatenrat“ Dresdens, im dem zunächst Otto Rühle die führende Rolle hatte, wurde auch Karl Plättner gewählt. Bereits nach wenigen Tagen prallten die Gegensätze im Arbeiterrat hart aufeinander. Auf der einen Seite die Sozialdemokraten, die jeden Eingriff in die bürgerliche Eigentumsordnung ablehnten, auf der anderen die Internationalen Kommunisten, die eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbild der russischen Revolution anstrebten Durch ihre Kompromisslosigkeit isolierten sich die IKD. Als am 13. November eine Solidaritätsadresse an die Bolschewiki sowie Karl Plättners Antrag auf „Bewaffnung der proletarischen roten Garde und der in den industriellen Betriebe beschäftigten Proletariermassen“ abgelehnt wurden, traten sie aus dem Arbeiterrat aus, da die Revolution, so Rühle, „ein großangelegtes, von der bürgerlichen Regierung gewolltes und vorbereitetes Täuschungsmanöver“ sei.[7]

    Als zum Jahreswechsel 1918/1919 die KPD als Zusammenschluss von Spartakusbund und IKD gegründet wurde, war Karl Plättner als Delegierter der IKD Dresden dabei.

    Vom Parteitag in Berlin aus scheint Plättner nach Bremen aufgebrochen zu sein, wo am 10. Januar 1919 als Antwort auf die Zurückdrängung der Revolutionäre durch die SPD-Regierung in Berlin und die daraus resultierenden Kämpfe (sog. „Spartakusaufstand“) von Sozialdemokraten und Kommunisten die Räterepublik Bremen ausgerufen wurde. Plättner wurde auch hier in den Arbeiter- und Soldatenrat sowie zum Bezirksvorsitzenden der KPD gewählt und eckte sofort an. Auf die Gerüchte der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts hin, schickten „revolutionäre Vertrauensleute“ der KPD unter Führung Plättners ein Telegramm nach Berlin, in dem gedroht wurde, dass „für jeden …standrechtlich erschossenen revolutionären Genossen drei Geiseln der Bourgeoisie und der reaktionären Gewerkschafts- und Parteibürokratie erschossen“ würden.[8] Plättner begründete das Telegramm damit, dass es mit dieser Drohung gelänge, Menschenleben zu retten. Der Arbeiterrat lehnte jedoch Plättners Ansinnen mit großer Mehrheit ab.

    Die Räterepublik war nicht auf die Idee gekommen, die Banken zu sozialisieren. Die Kreditinstitute sperrten am 16. Januar der Räteregierung den Kredit, worauf diese durch die Ausschreibung von Wahlen zu einer bremischen Nationalversammlung ihre Liquidierung beschloss. Zu der Minderheit, die sich damit nicht abfinden wollte, sondern am 20. Januar loszog, sich Waffen verschaffte und Banken besetzte gehörte natürlich auch Karl Plättner. Diesmal distanzierte sich sogar die KPD-Fraktion im Arbeiterrat, die ihn bezichtigte, der „Revolutionspsychose“ verfallen zu sein.

    Obwohl die Räteregierung bereits abgedankt hatte, zog es die sozialdemokratische Reichsregierung vor, militärisch in Bremen einzumarschieren und beauftragte damit den ultrarechten General v. Lüttwitz, der später beim Kapp-Putsch noch traurige Berühmtheit erlangte. Die Kämpfe am 4. Februar 1919 forderten 55 Todesopfer auf beiden Seiten.

    Nach Karl Plättner als Beteiligter an der Räterepublik wurde gefahndet. Am 28. Februar verfasste er als KPD-Bezirksvorsitzender ein Rundschreiben an die Parteimitglieder, das lediglich zeigt, wie groß die Meinungsverschiedenheiten in der KPD waren. Denn Plättner sucht die Schuld für das Scheitern der Räterepublik bei der eigenen Partei. Die eigenen Leute in der Regierung seien gescheitert, „weil sie auf der einen Seite mutlos, auf der anderen Seite aber .. Zu dumm waren, auch nur das Elementarste für das Proletariat in Angriff zu nehmen.“

    Seine These lautet, dass in der KPD nicht mehr die bereits im Weltkrieg aktiven Genossen, sondern von ihm so genannte „marktschreierische Novemberkommunisten“ den Ton angäben, denen es lediglich „auf a´Bissel Zeitvertreib“ ankäme und die „aus dem politischen Kampf des Proletariats so eine Art von Familienfest“ machen würden. Karl Plättners Fazit: „Unsere Organisation ist teilweise besudelt durch die scheußlichste Korruption, die je eine Bewegung auf der Stirn trug.“[9]

    Nach seiner Flucht aus Bremen scheint sich Karl Plättner in Berlin aufgehalten haben und soll dort an den „März-Kämpfen“ beteiligt gewesen sein, deren Auslöser der von der SPD-Regierung angeordnete Einmarsch von Freikorps unter Hauptmann Papst, dem Mörder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, war. Plättner berichtet später, es habe damals das Gerücht gegeben, er sei einer der 1.200 ermordeten Arbeiter gewesen.

    Vor allem zwei Fragen wurden bereits auf dem KPD-Gründungsparteitag diskutiert und dann in den ersten Jahren der jungen Partei heftig diskutiert. Die Gewerkschaftsfrage und die Frage der Beteiligung an Wahlen. Bekanntlich hat sich sogar Lenin bemüßigt gefühlt, zu diesen Streitfragen der deutschen Kommunisten Stellung zu nehmen. Karl Plättner hat sich zu beiden Themen ausführlich geäußert: In seiner im August 1919 verfassten Broschüre „Das Fundament und die Organisierung der sozialen Revolution“ werden die strittigen Punkte behandelt.

    Die Stellung des einstigen Vertrauensmanns der Metallgewerkschaft zu den Gewerkschaften wird nur verständlich, wenn man sich erinnert, was die Politik der SPD-geführten Gewerkschaften im Krieg gewesen war. Im Rahmen des sog. „Burgfriedens“ hatten die Gewerkschaften für Ruhe und Ordnung in der Arbeiterschaft gesorgt und sogar für die Kriegswirtschaft Arbeitszeitverlängerungen und Lohnkürzungen durchgesetzt. Massive Mitgliederverluste waren die Folge.

    Entsprechend drastisch fällt Plättners Urteil aus: „Die Gewerkschaften … sind keine Kampforganisationen, es sind auch keine lediglichen Unterstützungskassen, es sind konterrevolutionäre Körperschaften zu dem Zweck, die Konterrevolution zu organisieren. Wären es tatsächlich nur Unterstützungskassen, könnten wir sie in ihrer Sumpfathmosphäre unberücksichtigt lassen. So aber stehen sie direkt im Dienst der Konterrevolution und müssen als solche behandelt und bekämpft werden. Nicht nur ihre heutige Form, sondern ihr innerstes Wesen ist konterrevolutionär. Sie von innen zu reformieren oder zu erobern durch die gewerkschaftliche Opposition ist Kretinismus…“[10] „Heraus aus den Gewerkschaften“ heißt also Plättners Parole.

    Und bei der Gelegenheit der Gewerkschaftskritik macht Plättner gleich weiter mit einer Kritik an den Arbeitern: „…die gesamte Arbeitermasse ist nicht revolutionär, sie ist konterrevolutionär. Und diese konterrevolutionäre denkfaule Masse, der ihre kreaturische Jammergestalt auf der Stirn geschrieben steht, muß durch die Revolutionäre und ihren Sturmwind mit fortgerissen werden. … Ehe man diese stupide und verblödete Masse erzogen hat zum Klassenkampfe, werden noch einige Jahrtausende vergehen.“[11]

    Ich kann hier der Versuchung nicht widerstehen, Lenin zu zitieren: „Das ist eine so unverzeihliche Dummheit, dass sie dem größten Dienst gleichkommt, den Kommunisten der Bourgeosie erweisen können. … Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluß der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten … überlassen.“[12]

    Karl Plättner bezieht sich auf die bei den Linkskommunisten entwickelte Konzeption der „Einheitsorganisation“, die die Trennung von Partei und Gewerkschaft aufheben sollte. Davon ausgehend entwickelt Plättner ein eigenes Konzept des Gesellschaftsaufbaus des sozialistischen Deutschlands nach der Revolution, das von Betriebsorganisationen ausgeht, die von kommunistischen Betriebszellen oder auch von der Partei direkt eingesetzt werden. Diese Betriebsorganisationen seien die Voraussetzung dafür, die Streikfähigkeit der Arbeiter herzustellen, wobei Plättner Streik für ökonomische Ziele als Ablenkung von der Revolution ablehnt und auch behauptet, es bestünde gar keine Chance, durch Streik materielle Verbesserungen durchzusetzen. Mit Leuten, die glauben, den politischen Generalstreik mal eben deklarieren zu können, wie der USPD und ihrem Theoretiker Kautsky rechnet er ab: „Die USPD … wurstelt drauf los und wird an einem bestimmten Tage ihren Kautsky in den Affenkäfig setzen …damit er am 25. August 1919, nachmittags 4 Uhr 43 Minuten 39 Sekunden den Generalstreik ausrufen kann.“[13]

    Eindeutig ist auch Plättners Stellungnahme zum Thema Beteiligung an Wahlen: „Man lässt die Parlamentshelden völlig unter sich als Arbeiterverräter und Arbeiterzertreter: dann hat man dem Proletariat einen Dienst erwiesen. …Wir brauchen keine ohnmächtigen Protestler im Parlament, die dort höchstens ihren Hosenboden entzweirutschen … würden.“[14]

    Auch hier könnte man wieder Lenin anführen: „Solange ihr nicht stark genug seid, das bürgerliche Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionen auseinanderzujagen, seid ihr verpflichtet, gerade innerhalb dieser Institutionen zu arbeiten, weil sich dort auch Arbeiter befinden, die von den Pfaffen und durch das Leben in den ländlichen Provinznestern verdummt worden sind. Sonst lauft ihr Gefahr, einfach zu Schwätzern zu werden.“[15]

    IV. Die „Individuelle Expropriation“

    Nachdem die KPD auf dem Heidelberger Parteitag im Oktober 1919 ihre Mitglieder zur Arbeit im Parlament und in den Gewerkschaften verpflichtet hatte kam es zur Parteispaltung, die die Mitgliederzahl der KPD halbierte. Es entstand eine zweite kommunistische Partei, die „Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands“ KAPD, die die antiparlamentarische und antigewerkschaftliche Politik fortsetzte, der sich natürlich auch Karl Plättner sofort anschloss und der KPD beträchtliche Schwierigkeiten bereitete: „In Magdeburg hatte Plättner sein Domizil, der die Genossen komplett verrückt gemacht hat.“[16]

    Im Gegensatz zur KPD war die KAPD der Meinung, dass die Revolution in Deutschland weiterhin auf der Tagesordnung stünde. Und in diesem Punkt näherte sich -nach Meinung der KAPD jedenfalls- die KPD den KAPD-Positionen an, in dem sie unter maßgeblicher Beteiligung des EKKI (Exekutivkommittee der Kommunistischen Internationale), besonders von Karl Radek, die „Offensiv-Theorie“ entwickelte. Diese Theorie beinhaltete die Einschätzung, die KPD sei nun wieder stark genug, um offensiv, d. h. in Richtung Revolution vorzugehen. Vorangegangen war der Zusammenschluss der KPD mit dem linken Flügel der USPD, die die Partei zu einer Organisation mit mehreren hunderttausend Mitgliedern gemacht hatte.

    Der März 1921 brachte die Situation, in der die Offensivtheorie zur Anwendung kam. Das mitteldeutsche Industrierevier um Halle und Bitterfeld mit über 100.000 Industriearbeitern im Kohle- und Kupferbergbau und der Chemieindustrie, davon allein 25.000 im Leunawerk, war mit 30% der Wählerstimmen, über 70.000 Mitgliedern, mit kommunistischen Mehrheiten in vielen Betriebsräten und Gemeinden, die Hochburg der KPD. Aus Angst von dem steigenden Einfluss der KPD forderten führende Kapitalisten den Einmarsch der auch mit schweren Waffen ausgerüsteten Schutzpolizei, was die sozialdemokratisch geführte preußische Regierung natürlich gern genehmigte, wohl wissend, dass bewaffnete Kämpfe die Folge sein könnten. Die offensiv gestimmte KPD-Zentrale rief zum Widerstand auf und als die ersten Schiessereien zwischen Polizei und bewaffneten Arbeitern stattgefunden hatten, proklamierte sie den Generalstreik, der allerdings außer in einigen Orten des Ruhrgebiets und in Hamburg kaum beachtet wurde. Die aktionistische KAPD stellte sich sofort auf die Seite der KPD. Die Kämpfe in Mitteldeutschland wurden aber nicht von den Parteizentralen organisiert, sondern es bildeten sich regionale Kampfgruppen, die ohne Kontakt zueinander operierten. Einige Gruppen blieben sogar passiv wie die 12.000 Arbeiter des Leunawerkes, die nichts anderes taten, als ihre Fabrikanlage bewaffnet zu bewachen.

    Karl Plättner war einer von mehreren Anführern solcher Arbeiterkampfgruppen und operierte mit etwa 100 Bewaffneten im Raum Bitterfeld-Halle. Die größte Kampfgruppe war aber die von Max Hoelz, auch er ein KAPD-Mitglied. Als Hoelz im Laufe der Kämpfe am Nachmittag des 28. März 1921 in eine Fabrik in Ammendorf eindrang, um die dort gelagerten Geld- und Platinbestände zu beschlagnahmen, wurde ihm bedeutet, es gäbe nichts mehr mitzunehmen, denn er -Max Hoelz- sei ja vormittags schon da gewesen und habe alles mitgenommen. Man zeigte ihm auch die Quittung mit seiner angeblichen Unterschrift.[17] Der falsche Hoelz war niemand Anderes als Karl Plättner, der sich kurzerhand die Popularität des prominenteren Genossen zunutze gemacht hatte. Bei seinen späteren politisch motivierten Überfallen, die ihn als „mitteldeutschen Bandenführer“ berühmt machten, trat er dann allerdings schon unter seinem Namen auf.

    Der Überfall in Ammendorf hatte für Plättner noch ein Nachspiel. Hoelz ließ ihn regelrecht zu einer Sitzung der Parteizentrale vorführen und zwang ihn, die Beute der KAPD abzuliefern.[18]

    Von Ammendorf zog Plättner weiter nach Leuna, wo er feststellte, dass die Verteidigung des Leunawerkes hoffnungslos sei. Er floh ebenso wie die übergroße Mehrheit der bewaffneten Werksbesetzer, so dass die Polizei, die die Fabrikanlage am 29. März nach einem Artilleriebeschuss -wobei der Direktor des Leunawerks assistierte- stürmte, kaum Widerstand antraf, aber trotzdem unter den sich Ergebenden ein Massaker anrichtete.

    Die Märzaktion hatte als in einem völligen Fiasko geendet. Tausende traten aus den kommunistischen Parteien aus und in der KPD begannen Fraktionskämpfe wegen des Offensivkurses. Plättners Beitrag zu dieser Debatte war seine Veröffentlichung „Der organisierte rote Schrecken! Kommunistische Parade-Armeen oder organisierter Bandenkampf im Bürgerkrieg“ vom Oktober 1921. Als Verlag war angegeben: „Hausdruckerei der Ministeriums für öffentliche Unsicherheit (Gustav Noske Nachfolger).“

    Noch wütender als bisher bekannt rechnet Plättner hier mit KPD und KAPD, den „von schlotternder Angst gepackten Parteien“ ab: „Die Parteien sind die Sammelplätze für alle Verlogenen, sind die Sammelplätze für die eiteln politischen Schieber, sind die Sammelplätze für langweilige Kleinbürger und intellektuelle Schwärmer…“ „Die USPD sorgt sich um das Einigkeitsfest mit der SPD, windet Guirlanden und fabriziert Lorbeerkränze. Die KPD schmückt ihren roten Lappen mit dem unvermeidlichen Sowjetstern und trägt ihn bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit voran … die KAPD organisiert ihre Märchenerzähler und politischen Großväter…“[19]

    Die bisherigen Kampforganisationen, geführt von „mummelgreisen Kommandeuren“ bestanden aus „Paradesoldaten übelster Sorte, die eben zu nichts Revolutionärem zu gebrauchen waren; sofern man Gewehrreinigen als eine revolutionäre Tat ansah, waren sie revolutionär.“ Die unfähigen Anführer tragen die Verantwortung für die Opfer des verlorenen Kampfs: „Es mögen die Kämpfer geopfert werden, aber nur um den Preis eines Erfolges … und nicht um den Ruhm eines Narren willen.“[20]

    Karl Plättner fordert, die linken Parteien beiseite zuschieben und den revolutionären Kampf neu zu organisieren und zwar als „organisierten Bandenkampf“: „Tödlich trifft man die bürgerliche Gesellschaft, indem man sie stündlich beunruhigt, indem man versucht ihr Fundament zu unterminieren, indem man versucht, den Bürgerschreck inmitten des Bürgerkriegs zu organisieren.“ „Und jetzt kommt es darauf an -eine illegale Kampforganisation zu schaffen, die Ungesetzlichkeiten begeht, jetzt kommt es darauf an -ein Werkzeug, ein Instrument dem klassenbewussten Proletariat zu geben, das mit dem Gebrauch der Bombe Bescheid weiß, das sich in den Gefilden der Chemie zurecht findet, das Dynamit als seine tägliche Nahrung gebraucht, das Dynamitbomben auf den Strassen rollen lässt, wie sich beim Sturz des deutschen Kaisertums seine Fahnen in den Gossen herumtrieben.“[21]

    Besonders die Arbeitslosen seien aufgerufen, aktiv zu werden: „Einmal werden aber auch die Erwerbslosen begreifen müssen, dass sie … hungern, weil sie zu feig sind, um sich das zu holen, was sie als Menschen brauchen.“[22]

    Für die neu zugründende Organisation macht Plättner detaillierte Vorschläge: Ein „Oberster Aktionsrat“ aus sieben Mitgliedern als zentrale Leitung, der Deutschland in zehn „Hauptkampfgebieten“ mit einer Leitung von je fünf Genossen, die wieder in „Kampfgebietsabschnitte“ mit dreiköpfiger Leitung zerfallen. An der Basis stehen dann Ortsgruppen von fünf bis zehn Aktivisten mit zweiköpfiger Führung. Plättner geht also von mindestens mehreren Hundert „organisierten Bandenkämpfern“ aus -offenkundig ein utopischer Plan. Die Drohung mit dem Bombenschmeißen blieb auf dem Papier und statt der Proletariermassen waren es dann etwa 15 Leute, die mit Plättner die „individuelle Expropriation der Expropriateure“, sprich Überfälle auf Betriebskassen und Banken durchführten.

    Das sei ein Beitrag, so ein Flugblatt, das die Plättnerbande nach einem Raubüberfall verteilte, „an Anschwellen der unzählbaren kapitalistischen Verbrechen, die Dividendenschluckerei zu verhüten; wir haben den wirklichen Räubern das fortgenommen, was uns die elenden bejammernswerten Schurken seit Jahrhunderten entwendet haben mit allen gesetzlichen Mitteln.“[23]

    Damit hatte er sich endgültig in der Arbeiterbewegung isoliert. In der KPD-Presse wurde erklärt: „Die „Theorie“ (ist) primitiv, die Praxis gefährlich für das Proletariat, nicht für die Bourgeoisie. Auf diesem Boden wachsen keine Revolutionäre, sondern Abenteurer.“[24] Die KAPD schloss ihr Mitglied Plättner aus, weil sie die Unterordnung der Partei unter die Kampforganisation ablehnte.

    Mitbeteiligt an den Überfällen war Gertrud Gajewski aus Leipzig, mit der Karl Plättner seit mindestens Januar 1921 zusammenlebte und die später seine erste Frau wurde. Im März 1922 wurde ihr Sohn Karl geboren.

    Bis zu seiner Verhaftung im Januar 1922 gelang es Plättner mit seinen Leuten über 1 Mio Reichsmark zu erbeuten. Bei der Geldverteilung blieb man, was im Prozess sogar der Staatsanwalt anerkannte, politischen Grundsätzen treu. Neben der Unterstützung für arbeitslose Kommunisten wurde die Beute für revolutionäre Propaganda verwendet. Als bei einem Überfall versehentlich die Unterstützungskasse der Betriebsgewerkschaft mit genommen worden war, gab man dieses Geld prompt zurück. Bei keinem einzigen Überfall wurde ein Mensch verletzt, was den Historiker Peter Kuckuk zu der Feststellung veranlasste, Plättner sei „wie aus einem Märchenbuch vergangener Zeiten entnommen: ein „Terrorist“, der nicht tötet.“[25]

    Karl Plättners Verhaftung war geprägt durch eine Lynch-Atmosphäre. Bei der Einlieferung ins Gefängnis wurde durch Tritte und Schläge mit Gewehrkolben so misshandelt, dass er fürchtete, er werde, wie schon so viele Linke „auf der Flucht erschossen.“ Polizisten wurden von ihm als „uniformierte Idioten“ oder schlicht als „Polizeischweine“ bezeichnet. Jahre später, 1930 kam er dann allerdings zu einer differenzierteren Einschätzung: „Wir beurteilen die Polizisten unter dem Blickfeld, dass …sie die öffentlichen Organe der bürgerlichen Ordnung sind.“ Die Polizei werde „erst verschwinden mit dem Untergang der bürgerlichen Gesellschaft, die das typisch Polizistische erzeugt …In der bürgerlichen Ordnung, jener Organisation destruktiver Tendenzen, sittlicher Entartung, individueller Teufelei und den Prinzipien der Menschenvernichtung, werden sie ihre Obliegenheiten erfüllen. …später, wenn die soziale Revolution das sodomitische Imperium gestürzt hat, werden sie ausgedient haben … und man wird versuchen müssen, sie in Kontakt zu anderen Wesensarten zu bringen. Es wird ihnen dann schon nichts anderes übrig bleiben, als den Säbel und Revolver beiseite zu legen und sich zu verbinden mit produktiver Arbeit.“[26]

    Für den Fall, dass man ihn vor Gericht stellen würde, hatte Karl Plättner angekündigt: „Man spuckt dem Gesindel, das den bürgerlichen Klassengerichtshof repräsentiert, ins Gesicht. Sofern man aber nicht an Händen und Füßen gefesselt in Ketten liegt, steigt man auf den Tisch des Staatsanwalts, knöpft seine Hose ab und verrichtet seine menschlichen Bedürfnisse, betrachtet also den Schädel jener Justizbestien als Klosett.“[27] Der Prozess lief dann doch gesitteter ab. Nach drei je sechsstündigen Verteidungsreden, in denen Plättner vom „Kommunistischen Manifest“ ausgehend seine Weltanschauung dargelegt hatte wurde er zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Knast-Erfahrungen hat Plättner später in zwei Büchern verarbeitet, ich komme darauf zurück. Sein Rechtsanwalt, der auch Plättners zahlreiche Eingaben, Petitionen etc,. während der Haftzeit bearbeitete, war das KPD-Mitglied Ernst Hegewisch, der hunderte von politischen Gefangenen betreute. Selbst mit seinem Anwalt, dessen aufopferungsvolle Tätigkeit er durchaus anerkannte, verstand es Karl Plättner, sich anzulegen. 1924 fanden gerade die Prozesse gegen die Beteiligten am „Hamburger Aufstand“ vom Oktober 1923 statt und Hegewisch war überlastet, worauf sich sein Mandant bei der KPD beschwerte: „Ernst Hegewisch ist ein ganz brutaler, böswilliger und zynischer Menschenquäler“, „ein Zweig vom Stammbaum der Bourgeoisie“. Hegewisch antwortete in einem zwanzigseitigen Brief: „Jeder andere revolutionäre Anwalt würde dir nicht bloß deine Briefe, sondern auch deine Prozesse vor die Füße geworfen haben.“[28]

    V. „Eros im Zuchthaus“

    Eine Amnestie für politische Gefangene, die die neu ins Amt gelangte SPD-dominierte Reichsregierung durchführte, gab Karl Plättner am 17. Juli 1928 die Freiheit zurück. Der Dichter Erich Mühsam begrüßte die befreiten Plättner-Anhänger: „Seid willkommen, ihr alle, die …Ihr, den Methoden des Genossen Karl Plättner vertrauend, mit den lebhaften Aktion des individuellen oder des Bandenkampfes dem auf Gott und Noske vertrauenden Bürger den friedlichen Schlummer seines Dividendenglücks raubtet…“ und als Plättner am Leipziger Hauptbahnhof ankam, erwarteten ihn dort mehrere Tausend jubelnde Arbeiter.

    Karl Plättner suchte wieder Kontakt zu KPD. Ausdrücklich distanzierte er sich von „seinen damaligen Anschauungen und Methoden“ und erklärte sich bereit, „im Rahmen der Partei, die die kapitalistische Wirtschaft zu stürzen entschlossen ist, diszipliniert unter dem roten Sowjetbanner zu kämpfen.“[29] Zum förmlichen Parteieintritt scheint es nicht gekommen zu sein, Plättner trat aber propagandistisch für die „Rote Hilfe“ auf. Eine erste Publikation war 1928 „Gefangen“, ein Sammelband mit Erfahrungsberichten politischer Häftlinge in deutschen Gefängnissen. Dann folgte 1929 das Buch, dessen erste Auflage sofort vergriffen war und Karl Plättner wieder in ganz Deutschland bekannt machte: „Eros im Zuchthaus – Sehnsuchtsschreie gequälter Menschen nach Liebe“. Ein Buch also über die sexuellen Probleme von Strafgefangenen, für das der bekannte Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld ein Vorwort schrieb.

    Vorausgeschickt muss werden, dass die heutigen, humanen Formen des Strafvollzugs, wie offener Vollzug und die Besuchszimmer, in denen Gefangene mit ihren Frauen verkehren können, damals unbekannt waren. Das hieß teilweise jahrelange sexuelle Enthaltsamkeit oder Ersatzbefriedigung. Eben diese beschreibt Plätter und zwar -wie sollte es bei ihm anders sein – mit allen drastischen Einzelheiten. Da ist z. B. die Rede von Sex mit Tieren, „pseudohomosexuellen Befriedigungsformen in den Schlafsälen“, „geschlechtlichen Funktionen in den Sammeltransportwagen“, Fetischismus, „Entblößungsdrang“, Onanie und Masturbation.

    Ausführlich schildert er auch eigene Erlebnisse, wie das folgende: „Ich versuchte es derart, dass ich einen größeren Glasbehälter mit geknetetem Brotteig ausfüllte, das Ganze austrocknen ließ, dann eine Vagina darin aushöhlte, Decken und Kissen zur Nachbildung des weiblichen Körpers benutzte. Aber auch das ging nicht. Ich stand mit meinem Sexualhunger hilflos vor dieser Konstruktion und es schrie in mir auf: diese tote Form sollst du benutzen zur Regulierung der sexuellen Stofffunktion, zur Entspannung, zur Befriedigung eines der köstlichsten Begehren im menschlichen Leben? Nein, verteufelter Einfall, dreimal nein, halt ein oder ich morde mich, damit du nicht länger dein Frevelspiel mit mir treiben kannst!“[30]

    Karl Plättner ist für die sexuelle Emanzipation der Frau: “Die Versicherung, “Treue” zu üben, monogam zu leben und sich auf Jahre abzukasteien, ist eine Unehrlichkeit. … Männer roher Gewaltmentalität, Tyrannen und Despoten en miniature, nehmen mit arroganter Selbstverständlichkeit alle Rechte für sich in Anspruch, die sie den Frauen nicht zugestehen. Diese Männer wollen belogen sein, sie müssen belogen werden und sie werden belogen, wenn die Frauen ihnen gegenüber ihre geschlechtlichen Funktionen verschweigen und sogar bewusst abstreiten. … Wären diese Gefangenen hochherzig, dann müssten sie aus den Qualen ihrer eigenen Geschlechtsnot den einzigen Schluß ziehen, dass sie diese Qualen nicht auch ihren Frauen aufbürden dürfen. … Die Ehemänner werden noch ihr blaues Wunder erlegen, wenn das Weib erst beginnt, sich frei zu machen von all den massiven Unterdrückungen und sich nicht länger wie ein willenloses käufliches Objekt behandeln lässt. Allerdings, erst der sozialen und politischen Revolution wird die sexuelle Revolutionierung der Frauen auf dem Fuße folgen. Dann erst wird das Weib zu jener schönen Würde kommen, die heute durch das rohe Besitzrecht des Mannes geschändet ist.”[31]

    Karl Plättner wollte mit seinem Buch aufrütteln und Bahn brechen für eine humane Strafvollzugsreform. Neben anderen Reformen fordert er, den Gefangenen 2 mal jährlich einen Hafturlaub zu gewähren, sowie ein Besuchsrecht, “damit ein normaler und befriedigender Sexualverkehr ausgeübt werden kann.”[32] Aber den Kampf um die Strafvollzugsreform stellt er in einen größeren Zusammenhang, wie sein Schlusswort beweist: “Wohlan, ihr Menschen, kämpft mit und erkämpft den Gefangenen das, was zum Menschen gehört: die freie Geschlechtsbetätigung als Wurzel des Lebens selbst! Zerstört nicht nur die Zuchthäuser als Raubtierkäfige in ihrer heutigen Form, sondern helft mit, ein Gesellschaftsleben zu bauen, das keine Zuchthäuser benötigt.”[33]

    Nach “Eros im Zuchthaus” schrieb Plättner 1930 ein weiteres Buch, “der mitteldeutsche Bandenführer”, in dem er seine Konflikte mit Gefängnisdirektoren etc. niederschrieb. Dieses Buch war ein Misserfolg. Erich Mühsam spottete, das Buch sei “die Geschichte der Extrawürste …, die … von Karl Plättner begehrt und für ihn gebraten wurden.”[34] Tatsächlich führt Plättner seitenlang aus, wie er z. B. ein Aquarium möchte oder einen Blumenstrauß oder er fordert als Schutz vor “religiöser Belästigung” Türschilder mit der Konfession des Häftlings.

    1930 ging seine Ehe mit Gertrud in die Brüche, warum ist nicht bekannt. Mir scheint nicht ausgeschlossen, dass sie wenig begeistert war, dass ihre durch die Haft des Mannes bedingten Eheprobleme ausführlich in “Eros im Zuchthaus” geschildert worden waren. Seine neue Partnerin war seit 1931 Hertha Sebastian, 1934 kam der Sohn Rolf zur Welt. Die Familie schlug sich mühselig durch, legte teilweise von Fürsorgeunterstützung. Dann gelang es Karl Plättner sich mit dem Handel von Brennholz selbständig zu machen und das Geschäft ging zeitweise so gut, dass er drei Arbeiter anstellen konnte.

    VI. In der Hölle der Konzentrationslager

    Als die Nazis 1933 die Macht übernahmen, schloss sich Karl Plättner, der sich ganz aus der Politik zurückgezogen hatte, nicht dem kommunistischen Widerstand an. Dennoch hatten ihn die Nazis von Anfang an im Visier, denn an seiner nach wie vor kommunistischen Einstellung machte Karl Plättner keinen Hehl.

    Nach einer kurzen Verhaftung 1933 wurde er erstmals von April bis November 1937 ins KZ Buchenwald verschleppt. Sein Name befand sich auf einer Liste von Personen, deren “vorbeugende” Verhaftung nach dem Kriegsausbruch vorgesehen war. So kam Plättner im September wieder nach Buchenwald und arbeitete dort beim Baukommando und dann im Sägewerk. Von Buchenwald wurde er im Januar 1944 nach Polen in das KZ Lublin/Majdanek deportiert, wo er für die SS-Firma “Deutsche Ausrüstungswerke” schuften musste. In Majdanek lernte Plättner Walter Reede kennen, ein Kommunist aus Dresden, der ihn als Freund und Kamerad bis zum Tod begleitete. In Majdanek überlebte Plättner nur, weil es von Zeit zu Zeit gelang, illegal eine Extraportion Brot aufzutreiben. Im Juli 1944 wurde das Lager aufgelöst und Karl Plättner gehörte zu dem Häftlingen, die nach Auschwitz gebracht wurden und dort im Baukommando eingesetzt wurden. Im Herbst 1944 war die Naziwehrmacht bereits derart in die Defensive geraten, dass den deutschen politischen Häftlingen in Auschwitz das Angebot gemacht wurde, sich zur Wehrmacht zu melden. Plättner blieb seinen Grundsätzen treu und lehnte ab. “Wir sagten uns”, so Walter Reede rückblickend, “wenn schon eine Entscheidung, dann eine solche, die unserem Wesen entspricht nach all dem Leid. Wenn wir schon zum Tode verurteilt sind, dann bildet die Art des Todes eine Einheit zu unserem Leben.”[35]

    Beim Herannahen der Roten Armee wurde im Januar 1945 auch Auschwitz geräumt. Für die Gefangenen bedeutete das nicht die Freiheit. Plättner wurde ins KZ Mauthausen verschleppt und dann in dessen Nebenlager Melk. Dort errichteten die Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen, die jedem Dritten das Leben kosteten eine große Stollenanlage für die Rüstungsproduktion der Steyr-Daimler-Puch AG. Am 13. April 1945 waren auch hier die Befreier nahe und die Häftlinge wurden auf den Todesmarsch ins Außenlager Ebensee im Salzkammergut getrieben. Auch hier wurden Stollen gebaut, die als Ersatz für die Raketenforschung von Peenemünde geplant war. Karl Plättner war schon nicht mehr arbeitsfähig und überlebte nur, weil ihn Mithäftlinge auf ihrem Block versteckten. Trotzdem machten sich die beiden Freunde bereits am Tag ihrer Befreiung, dem 06. Mai, auf dem Weg in die Heimat. Bis Freising wurden sie auf einem Lastwagen mitgenommen, dann schleppten sie sich zu Fuß weiter, mussten alle hundert Meter eine Pause machen. Sie kamen bis Allershausen, wo Karl Plättner endgültig zusammenbrach. Er wurde in das Lazarett im heutigen Diözesanmuseum auf dem Freisinger Domberg gebracht, konnte sich aber nicht mehr erholen und starb am 04. Juni 1945.

    Begraben wurde er auf dem Neustifter Friedhof und von dort 1959 auf den Kriegsgräberfriedhof “Am Nagelberg” in Treuchtlingen überführt. Dort liegt sein Grab Seit an Seit mit den Gräbern von 2.500 Soldaten der deutschen Wehrmacht. Warum er ausgerechnet auf einen Soldatenfriedhof landete, ist heute nicht mehr zu ermitteln.

    Man wird wohl sagen können, dass man zur Zeit der Adenauer-Restauration, als alte Nazis wieder in Amt und Würden saßen, in Freising und anderswo nicht allzu viel mit Gräbern von KZ-Opfern anzufangen wusste. So schreibt z. B. das Freisinger Tagblatt 1958 von 28 Naziopfern, die “an unbekannten Orten auf dem Neustifter Friedhof verstreut” begraben seien.

    Das Mahnmal des Treuchtlinger Soldatenfriedhofs trägt die Inschrift “Schwört ab der Gewalt und rettet den Menschen im Menschen.”

    1. Soweit nicht anders angegeben folge ich der Biographie von Volker Ullrich: Der ruhelose Rebell – Karl Plätter (1893-1945), Verlag C.H. Beck, München, 2000 [↩]
    2. Karl Plättner: Der mitteldeutsche Bandenführer – mein Leben hinter Kerkermauern, Asy-Verlag, Berlin, 1930, S. 98, S. 1 [↩]
    3. zitiert nach Ullrich, a. a. O., S. 18 [↩]
    4. Dort auch der Satz: „Trotzdem liebe ich meine Mutter.“ (a. a. O., S. 98) [↩]
    5. Auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal, wo sich erstmals die sozialistischen Antikriegskräfte sammelten, schlossen sich die Delegierten der Linksradikalen im Gegensatz zu denen der Spartakisten an Lenin an. [↩]
    6. zitiert nach Ullrich, a. a. O., S. 43 [↩]
    7. zitiert nach Ullrich, a. a. O., S. 56 [↩]
    8. zitiert nach Ullrich, a. a. O., S. 63 [↩]
    9. Peter Kuckuk: Karl Plättner und sein Rundschreiben vom 28. Februar 1919 an den Bezirk Nordwest der KPD – Ein Beitrag zum Phänomen des Linksradikalismus, in: Bremisches Jahrbuch 63 (1985), S. 109 ff. [↩]
    10. Karl Plättner: Das Fundament und die Organisierung der sozialen Revolution, Karin Kramer Verlag, Berlin (West), 1973, S. 14 [↩]
    11. a. a. O., S. 15 [↩]
    12. Vladimir Iljytsch Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Dietz Verlag, Berlin, 161989, S. 46 [↩]
    13. Plättner, soziale Revolution, a. a. o., S. 33 [↩]
    14. a. a. O., S. 20 [↩]
    15. Lenin, a. a. O., S. 56 [↩]
    16. zitiert nach Ullrich, a. a. O., S. 79 [↩]
    17. Max Hoelz: Vom „Weißen Kreuz“ zur roten Fahne – Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebisse, Mitteldeutscher Verlag, Halle, Lepzig, 1984, S. 245 [↩]
    18. a. a. O., S. 246 [↩]
    19. Karl Plättner: Der organisierte rote Schrecken! Kommunistische Parade-Armeen oder organisierter Bandenkampf im Bürgerkrieg, in: Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit 16 (2003), S. 41, S. 43, S. 58 [↩]
    20. a. a. O., S. 48, S. 68 [↩]
    21. a. a. O., S. 44, S. 47 [↩]
    22. a. a. O., S. 68 [↩]
    23. zitiert nach Ullrich, a. a. O, S. 123 [↩]
    24. zitiert nach Ullrich, a. a. O, S. 141 [↩]
    25. Peter Kuckuk: Vorwort zu Karl Plättners Broschüre „Der organisierte rote Schrecken!“, in: Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit 16 (2003), S. 25 [↩]
    26. Plättner, Bandenführer, a. a. O, S. 2 f. [↩]
    27. Plättner, Schrecken, a. a. O., S. 68 [↩]
    28. zitiert nach Ullrich, a. a. O., S. 170 f. [↩]
    29. itiert nach Ullrich, a. a. O., S. 189 [↩]
    30. Karl Plättner: Eros im Zuchthaus – Sehnsuchtsschreie gequälter Menschen nach Liebe, Mopr-Verlag, Berlin, 1929, S. 123 [↩]
    31. a. a. O., S. 181 f. [↩]
    32. a. a. O., S. 221 [↩]
    33. a. a. O., S. 223 [↩]
    34. zitiert nach Ullrich, a. a. O., S. 195 [↩]
    35. zitiert nach Ullrich, a. a. O., S. 210 [↩]
    Tod auf der Flucht vor der SA - Martin Lamprecht aus Weng wurde Opfer der Nazis

     

    Was genau im Sommer 1933 in Weng (heute Gemeinde Fahrenzhausen) geschah, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren. Die einzig vorhandenen Quellen sind die Zeitungen, die -ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der NSDAP- die nationalsozialistische Sichtweise der „Tragödie von Weng“ wiedergeben.

    Deutlich wird aber, dass es sich wohl um einen Familienkonflikt handelte, der durch die Nazis eine politische Dimension bekam.

    Der 32-jährige Martin Lamprecht war der älteste Sohn des Bauern „Zum Frei“, somit zum Hoferben prädestiniert gewesen. Den Hof hatte aber sein jüngerer Bruder erhalten. Für das Freisinger Tagblatt war die Sache klar: „Faul und arbeitsscheu … ein notorischer Feind der Arbeit“ sei Martin gewesen. „Aber die allgemeine Arbeitslosigkeit war ja ein so bequemer Vorwand, um die eigene Trägheit zu rechtfertigen. In seiner Gesinnungsart unterschied er sich in keiner Weise von den klassenkämpferischen Unterweltsgestalten unserer Großstädte, dem Proletariat der Straße. … In allen Stücken ein Beispiel dafür, dass auch auf dem Lande Untermenschentum möglich ist.“[1] Ob, wie die Formulierung der Zeitung durchblicken lässt, nicht „Arbeitsscheu“, sondern die Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise für Lamprechts Erwerbslosigkeit verantwortlich gewesen sein könnte oder ob der als Hoferbe aufgewachsene Martin es ablehnte, als Knecht zu dienen, während der jüngere Bruder zum „Frei“-Bauern avancierte, lässt sich heute nicht mehr entscheiden.

    Die Nazis griffen jedenfalls mit Brachialgewalt ein. „Im Falle, daß er sich weigern sollte (zu arbeiten) drohte man ihm die Einweisung ins Konzentrationslager an. Dort würde man ihm das Arbeiten schon beibringen.“ Lamprecht entzog sich der Verhaftung durch die Flucht in die Wälder der Umgebung. Dort verbrachte er drei Wochen, offenbar von seiner Mutter heimlich unterstützt.

    In der Nacht nach seiner Flucht brannte der Stadel des „Gammel“. Schon im Jahr 1925 war das Anwesen „Zum Gammel“ niedergebrannt; auch damals war Martin Lambrecht verdächtigt worden, ohne dass ein Beweis dafür erbracht werden konnte.

    Am 21. August 1933 eskalierte der Konflikt in der Familie Lamprecht: Martin schlug die Frau seines Bruders mit einem Prügel nieder und versuchte anschließend, im Stadel des „Frei“ Feuer zu legen. Dann floh er zurück in den Wald, das „Höhenberger Holz“. Die örtliche SA unter Führung des Sturmführers Rüdiger aus Unterbruck umzingelte ihn: „Wie bei einer Hetz- und Treibjagd das Wild war er umstellt.“ Nur in Richtung des Amperkanals konnte Lamprecht noch fliehen, denn „man hatte nicht gerechnet, dass er da hinein flüchten würde.“ Martin Lamprecht sprang in den Kanal und ertrank.

    Aufgrund der glatten Betonwände des Kanals ist es schwierig, aus dem Wasser wieder herauszukommen. Unabhängig davon ging das „Tagblatt“ von Suizid aus. Der Flüchtige habe eine Stange, die ihm hingehalten wurde, nicht genommen, auch keinen Versuch gemacht, zu schwimmen. „Er scheint sich jedenfalls bewußt geworden zu sein, daß er in die große Familie der arbeitssamen, anständigen und geordneten Menschen nicht hineinpasse, daß er selbst sich ausgeschlossen habe von ihrer Gemeinschaft.“

    Was die Nazis als „Happy End“ feierten, ist heute nur schwer erträglich zu lesen: „Der Bevölkerung ist durch das Ende eines unberechenbaren Außenseiters der menschlichen Gesellschaft, eines Rebellen gegen menschliche Zucht und Ordnung die Beruhigung wieder gegeben. Das Schicksal selber hat eine Lösung herbeigeführt, die allgemein als gerechte Vergeltung empfunden wird.“ Von der Denunziation als „Untermensch“, der Drohung mit dem KZ, der Hetzjagd durch die SA bis zum Tod auf der Flucht, der als „gerechte Todesstrafe“ dargestellt wird – auch wenn Martin Lamprecht Verbrechen begangen hat, ist klar, dass sich hier die Nazis eines Menschen entledigten, der nicht in ihr Weltbild passte. Er ist -soweit bisher bekannt- das erste Todesopfer des Nazi-Terrors im Landkreis Freising.

    1. „Die Tragödie von Weng“, Freisinger Tagblatt, 24.8.1933; aus diesem Artikel auch die folgenden Zitate. Ein weiterer Artikel „Aufsehenerregender Vorfall“, Freisinger Tagblatt, 23.8.1933 [↩]